Meistens habe ich immer genau gewusst, wie ich etwas sagen will. Und dann gibt es doch diese Tage, da bleibt einem jedes Wort im Halse stecken. Direkt vor uns liegt eine neue Spielzeit, die spannend und in vielen Facetten neu für uns sein wird. In den letzten Wochen hat sich viel geändert: ein neues Trainerteam, langjährige Spieler haben den Verein verlassen und Wolfgang Dietrich ist nach einer denkwürdigen Mitgliederversammlung zurückgetreten. Grund genug, sich auf die neue Spielzeit zu freuen, nicht wahr? Manches wird uns vertraut sein, die Gesichter, die wir im Stadion treffen, unser alter Dauerkartenplatz, das Kribbeln beim Blick in die Cannstatter Kurve. Doch es gibt Dinge, die sind nicht mehr wie vorher.
Ich dachte eigentlich, ich hätte das alles hinter mir. Mit einer neu entdeckten Gelassenheit, um nicht zu sagen Teilnahmslosigkeit verfolgte ich die Spiele der letzten Wochen weitgehend mit einem Achselzucken und ertappte mich ein ums andere Mal bei der Aussage “Dann steigen sie eben ab, es ist verdient”. Und nun sitze ich dennoch hier, zwei Tage nach dem Hinspiel, zwei Tage vor dem Rückspiel und muss mir doch eingestehen, dass es mir doch nicht ganz so egal ist, wie ich gedacht hatte. Am Montag findet in der Alten Försterei der alles entscheidende Showdown statt. Union gegen VfB. Zweitligist gegen Erstligist. Gut gegen Böse, wenn man so will. Alle gegen uns. Natürlich tat uns der VfB nicht den Gefallen, zumindest im Hinspiel zu verdeutlichen, wer in der kommenden Saison in der ersten Liga spielen sollte. Im Gegenteil. Was bleibt, sind Zweifel. Und verdammt viele beschissene Gefühle.
Keine andere Frage beschäftigt mich und viele andere am Tag danach so sehr wie diese: Warum erst jetzt? Diese Jungs können rennen, kämpfen, Fußball spielen. Und sie können gewinnen. Sie haben die Qualität, alles aus sich rauszuholen, für den anderen mitzurennen und all die Leidenschaft zu zeigen, die wir als Cannstatter Kurve vorleben und im gleichen Maß von unseren Spielern erwarten. Warum nur können sie es erst dann abrufen, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist? Warum nur war es nicht möglich, diese Leistung vorher zu zeigen, als es noch darum ging, das schlimmste abzuwenden? Warum nur musste es erst so weit kommen?
In riesigen Lettern standen diese Worte über die komplette Cannstatter Kurve geschrieben. Kurz, prägnant und unmissverständlich. Es war das erste, das die Spieler erblickt hatten, als sie zum Aufwärmen das Stadion betraten. Viel Erde war verbrannt worden, als sich die Mannschaft vor einer Woche dazu entschlossen hatte, sowohl dem bisherigen Trainer Markus Weinzierl als auch den geschätzt 5.000 VfB-Fans in Augsburg die Leistung zu verweigern. Der Graben zwischen Mannschaft und Fans, der bereits vorher groß gewesen war, schien unüberwindbar auseinanderzuklaffen. Besondere Situationen erfordern mitunter besondere Reaktionen. An diesem Tag müsse sich das Team von Interimstrainer Nico Willig, der von der U19 hochberufen wurde, den Support der Kurve erst einmal verdienen. Doch wie sollte das ganze funktionieren? Muss die Mannschaft erst Leistung bringen, um den Rückhalt der Kurve zu bekommen? Und kann die Mannschaft überhaupt erst Leistung bringen, wenn der Rückhalt der Kurve fehlt? Wir waren immer da, haben gesungen, geschrien…
Eiskalt kroch es in einem nach oben. Das Gefühl, dass die letzten Tage als Erstligist ein weiteres Mal gezählt sind. Und die Kälte, die sich durch die Betonstufen durch die Füße nach oben bahnte. Es dürften die schlimmsten Zeiten als VfB-Fan sein, seit, ja, seit dem Abstieg 2016. Die Protagonisten sind weitgehend andere, das hilflose Gefühl der Ohnmacht, an all dem nichts ändern zu können, ist dennoch das gleiche. Darüber etwas zu sagen, geschweige denn zu schreiben, fällt Woche für Woche immer schwerer. Und so sehr ich all die Jahre immer gehofft habe, nie einen Abstieg miterleben zu müssen, so sage ich jetzt das gleiche wie einst vor drei Jahren. Es wäre verdient.
Wie unterschiedlich die Interpretation eines erreichten Punktes doch sein kann. Die Fans der Mannschaft, die mit vier Punkten Abstand hinter uns steht, freuten sich, applaudierten und sangen. Tja, und dann gibt es immernoch uns. Sechs Spieltage vor dem Ende, ohne erkennbare Ambitionen, am misswilligen Zustand der drohenden Relegation oder Schlimmerem, noch die Kurve zu bekommen. Die Hoffnung schwindet allenortes, vom “Wir schaffen das gemeinsam” nicht die Spur. Verzweiflung, Lähmung, Gleichgültigkeit. Auf der naiven Suche nach einem Funken, der das Feuer neu entflammen kann, der aber vermutlich nicht kommen wird.
Nichts halbes, nichts Ganzes. Dieses seltsame, unbestimmte und leicht unbehagliche Gefühl, nicht zu wissen, was man davon halten soll. War das jetzt gut, weil man zumindest einen Punkt gegen einen starken Gegner geholt hat? Oder war das jetzt ärgerlich, weil wir die Punkte so dringend brauchen und diese zwei Punkte am Ende vielleicht fehlen könnten? Ich weiß es auch nicht. Es hätte durchaus dümmer laufen können, wenn wir in der hektischen Schlussphase doch noch das Gegentor bekommen. Aber was wäre hier los gewesen, wenn das Glück am Ende auf unserer Seite gestanden hätte? So bleibt ein durchwachsenes Spiel, bei dem es schwer fällt, eine Tendenz für die nächsten Wochen abzuleiten. Nach der Länderspielpause muss der VfB nach Frankfurt. Gnade uns Gott.
Momente wie diese sind selten geworden. Wochenlang hatte die Tristesse den VfB im Würgegriff, ohne Anstalten zu machen, ihn wieder loszulassen. Unser trauriges Dasein am Tabellenende der Bundesliga wurde zur Gewohnheit, allwöchentliche Niederlagen unser täglich Brot und die Aussichten auf Besserung waren nur selten nüchterner als jetzt gerade. Das Abstiegsduell gegen den Konkurrenten aus Hannover konnte der VfB ja nur verlieren. Oder etwa doch nicht? Viel sprach nicht für einen Punktgewinn in diesem alles andere als prestigeträchtigen Kellerduell, ein übles 0:0, ein Hauen und Stochern, das so ziemlich Übelste, was man mit seinem Wochenende anstellen kann. Manchmal ist es ganz gut, keine Erwartungen zu haben. Von Zeit zu Zeit überrascht der VfB einen dann doch.
Das war wieder einmal dieser Tage. Ein Tag, an dem man sich bewusst wird, dass man nur eine winzig kleine Entscheidung davon entfernt war, auf der anderen Seite des Stadions zu stehen. So viel Argwohn und Abneigung dem “Verein” aus meiner Heimatstadt zurecht zuteil wird, so wird diese Partie niemals für mich ein gewöhnliches Spiel wie jedes andere sein. Doch wo sich normalerweise Aufregung und Anspannung mischt und ein ungutes Bauchgefühl hervorrufen, so hat die Tristesse der vergangenen Monate weiterhin Bestand. Nie war es schwerer, VfB-Fan zu sein. Und gleichzeitig war es nie leichter, sich auf das zu besinnen, was wirklich wichtig ist.
Nach sechs Wochen war ich zurück. Ganze 43 Tage waren vergangen, seit ich das letzte Mal im Stadion war. Man könnte meinen, ich habe mich geradezu danach verzehrt, endlich wieder da zu sein, dass ich es genossen habe, im Kreise meiner Leute zu stehen und meine Mannschaft nach vorne zu schreien. Die bittere Wahrheit sieht anders aus. Die letzten Wochen und Monate haben ihre Spuren hinterlassen. In den letzten zwölf Jahren als VfB-Fan habe ich dieses Gefühl nicht gekannt, diesen befremdlichen Moment, nicht einmal beim vermeintlichen Siegtor der eigenen Mannschaft so etwas wie Freude zu empfinden. Da war nichts. Nur Leere.
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