Nach sechs Wochen war ich zurück. Ganze 43 Tage waren vergangen, seit ich das letzte Mal im Stadion war. Man könnte meinen, ich habe mich geradezu danach verzehrt, endlich wieder da zu sein, dass ich es genossen habe, im Kreise meiner Leute zu stehen und meine Mannschaft nach vorne zu schreien. Die bittere Wahrheit sieht anders aus. Die letzten Wochen und Monate haben ihre Spuren hinterlassen. In den letzten zwölf Jahren als VfB-Fan habe ich dieses Gefühl nicht gekannt, diesen befremdlichen Moment, nicht einmal beim vermeintlichen Siegtor der eigenen Mannschaft so etwas wie Freude zu empfinden. Da war nichts. Nur Leere.
Ich hatte das alles schon hinter mir gelassen. Dieses Aufregen, dieses Ärgern, diesen Frust. Ich wollte nicht mehr, dass der VfB darüber bestimmt, wie meine Stimmung sein soll, nicht nur an einem Wochenende, sondern für die ganze Woche. Ich war es leid, mich von diesem Trauerspiel emotional beeinflussen lassen. Und so traf ich eine Entscheidung: Gelassener werden, selbst wenn der VfB auf dämlichste Art und Weise verliert. Das hat in den letzten Wochen ganz passabel funktioniert, ich konzentrierte mich auf die Arbeit und die schönen Dinge des Lebens. Und dann kam Schalke. Zu spüren, wie es einen dann doch beschäftigt, aufwühlt und ärgert, ist etwas, was ich vor Weihnachten eigentlich nicht mehr gebraucht hätte.
Eigentlich wollte ich darüber schreiben, wie es sich anfühlte, als das zweite Tor gefallen war. Wie ein breites Grinsen über meine Lippen huschte und ich langsam mit dem Kopf nickte. Wie es sich ein kleines Stück so anfühlte, als hätte sich ein Kreis geschlossen, der vor fast einem Jahr mit seiner Rückkehr begonnen hatte. Es wäre gelogen, wenn ich behaupten würde, Mario Gomez wäre nie eine ganz besondere Personalie für mich gewesen. So viele Jahre, so viele Emotionen, so viele Geschichten. Trotz der größer gewordenen emotionalen Distanz zum Verein, ein ungelogen schöner Augenblick. Und doch ist er auf einmal bedeutungslos.
Es hatte gewissermaßen etwas Beklemmendes. Wo sich normalerweise die Cannstatter Kurve die Seele aus dem Hals schreit, herrschte gespenstische Stille. Ein harmloses Grundrauschen entstand, 52.739 Zuschauer waren ins Neckarstadion gekommen und schwiegen. Es war so still, dass man die Anweisungen unseres Torwarts hatte hören können. Uns gegenüber war der Gästeblock im Unterrang gut gefüllt, auch dort bewegte sich nichts. Kein Schreien. Kein Hüpfen. Kein Singen. Kein Klatschen. In großen Lettern hatten beide Fanlager die selben Worte auf ein großes Transparent gemalt, das zu beiden Seiten gleichermaßen lesbar war: “Vereine ihr habt es in der Hand – Alle Montagsspiele abschaffen!” Eine sonst so seltene Einigkeit deutscher Fanszenen, vereint im Kampf um das selbe Ziel. Eine gute Sache – auch wenn das nicht jeder im Stadion verstehen wollte.
Meine bessere Hälfte hat bisweilen einen seltsamen Sinn für Humor. Vor uns lag noch ein gutes Stück A6, die Sonne ging gerade auf und er legte ein ganz besonderes Lied auf. Aus den Lautsprechern dröhnte “Schade, Scheiße, wie kann das passieren? Wie konnten wir gegen so was verlieren?” Auf dem Weg nach Nürnberg, wo alles andere als ein Sieg einem vorzeitigen Abstieg gefühlt gleichgekommen wäre, fand ich das nur bedingt lustig. Eine gewisse Anspannung konnte ich nicht verbergen, ohne Zweifel war diese Partie enorm wichtig, um sich noch ein Stück Resthoffnung für diese Saison bewahren zu können. Siegen oder Fliegen. Kämpfen oder Gehen. Tod oder Gladiolen. Wie auch immer man es zu nennen vermochte – es stand viel auf dem Spiel.
Die Botschaft war kurz, aber sie war eindeutig. In einem ohrenbetäubenden Lärm schallte es ihnen entgegen: “Kämpfen oder gehen”. Danach kehrten sie uns den Rücken, nur um dafür noch lautere Pfiffe zu bekommen. Betrachtet man die aktuelle Situation genauer, könnten einem glatt die Tränen kommen. Der VfB liegt in Trümmern und wir müssen dabei zusehen. Aus der anfänglichen Attitüde, der VfB würde ohnehin immer die ersten Spiele versemmeln, bevor er einigermaßen in die Spur kommt, wurde allmählich die finstere Gewissheit, dass es vielleicht nicht zu mehr reichen könnte, als das, was gerade vor uns liegt. Frustration. Ratlosigkeit. Verzweiflung.
Auf einmal gingen die Lichter aus. Hunderte Fans liefen noch in Richtung Unterführung zum Technikmuseum auf der anderen Seite der A6, als der Stromversorgungswagen mehr oder weniger versehentlich für den Weg die Lampen ausknipste. Irgendwie ironisch, nicht wahr? Mittendrin zwischen mehreren Hoffenheim-Fans, die lachten, schwärmten und einen eher unbeholfenen Derbysieger-Gesang anstimmten. Es gibt wahrlich schönere Momente als diesen. An solchen Tagen ist es nur schwer, Trost zu finden und den Kopf oben zu lassen. Es gab eine Zeit, da hätte mich ein solches Spiel brechen können. Aber das will ich nicht mehr. Zu emotionslos bin ich in dieser Hinsicht geworden und reihe mich ein in eine wachsende Anzahl von Fans, denen es genauso geht.
Jadon Sancho in der 3. Minute. Marco Reus in der 23. Minute. Francisco Alcácer in der 25. Minute. Und Maximilian Philipp in der 85. Minute. Mein wenig motiviertes Ich will mir damit an diesem kühlen Montagabend sagen, dass ich es damit auch gut sein lassen könnte. Wer braucht hier einen umfangreichen Spielbericht, der die Bandbreite meiner Emotionen wiedergibt und in einem Archiv aufgenommen wird, bei dem es Freude bereitet, es auch fünf Jahre später noch zu lesen? Warum sollte ich weit ausholen über etwas, das in – verhältnismäßig – wenigen Worten ebenso Platz findet? Ich tue mich schwer, Dinge auf einmal anders zu machen, als ich es all die Jahre gewohnt war. Aber ist es nicht wirklich an der Zeit, den Dingen den Raum zu geben, den sie verdienen? Auch, wenn das nur ein kleiner Raum ist? Ein Selbstversuch in lediglich anderthalb Seiten.
Bunt. Schrill. Dramatisch. Emotional. Dieses Spiel war alles außer langweilig. Dass wir am Tag danach darüber schmunzeln können, haben wir einer gehörigen Portion Glück zu verdanken. Schon in der vergangenen Rückrunde hatten wir bisweilen erstaunt feststellen müssen, dass Siege manchmal dreckig und unverdient geholt werden müssen, am Ende fragt niemand danach, wie die Punkte zustande gekommen sind. Auch heute fragen wir uns, wie das eigentlich gehen konnte – unterlegen gegen eine Mannschaft, die mit einem Mann weniger spielte. Es ist so viel Absurdes passiert, man sollte meinen, diese Zeilen schreiben sich einfacher als die letzten Male. Ganz so einfach ist es dann aber doch nicht.
Manches kommt nach vielen Jahren einfach nicht mehr überraschend. Der VfB vermasselt alljährlich seinen Saisonstart, punktet wenig bis gar nicht und im Herbst fallen mit den Blättern auch die Trainer. Eine mindestens genauso verlässliche Voraussage wie die Tatsache, dass meine Mama zum Besuch des Töchterleins alles auf Lager hat, von dem ich mal sagte, ich würde es gerne trinken oder essen. Oder wie die Tatsache, dass der Heimatbesuch zwar stets wunderbar ist, aber die Heimreise ohne Punkte angetreten wird.
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