Man sollte meinen, es fällt nach solchen Tagen leichter, die richtigen Worte zu finden. Zu erzählen gibt es genug, angefangen von erneuten Zweifeln am Charakter der Mannschaft, über die Hoffnung auf eine Trotzreaktion, bis hin zu den Momenten, die einem die Freudentränen in die Augen treiben. Ohne jeden Zweifel gibt es einiges zu berichten und ich denke nicht, mit ein paar wenigen Seiten auszukommen, was mir nicht einmal gelingt, wenn ich nicht viel schreiben möchte. Das einzige Problem, was ich nun habe: Wo soll ich denn da nur anfangen?

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Vor nicht einmal 48 Stunden hatte ich niedergeschrieben, dass es Dinge gibt, die man einfach nicht erklären kann – und dabei bleibe ich. Wer hatte das alles schon kommen sehen? Hinter uns liegen nun alle drei Spiele der englischen Woche, allesamt auf ihre eigene Weise unerklärlich, allesamt ließen uns unmittelbar mit der Frage zurück: „Was zum Teufel…?!“. Ungläubig. Unverständlich. Unfassbar. Für mich war die Befürchtung groß, dass die Spiele gegen Hannover und Gladbach ihre Spuren hinterlassen haben. Vielleicht haben sie das ja auch, aber auf eine so viel andere Art und Weise, als ich es vermutet hatte.

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Alle Spielberichte sind gelesen, alle Highlights sind angeschaut, alle Pressestimmen sind einverleibt. Was bleibt, ist jenes grenzdebile Dauergrinsen, von dem ich gedacht hatte, ich würde es nicht so schnell wiedersehen. Für den Fall, dass jemand fragt: ja, ich gestehe mir selbst ein, hin und wieder überzureagieren. Warum das so ist, habe ich schon oft hier hinlänglich erläutert, es sind die Gedanken an jenes üble Szenario, dass uns mit einem einzigen Spiel zurück in den Abgrund stürzt. Das mag manchmal überzogen sein, doch man muss nicht einmal als einer von 1.200 VfBlern im Paderborner Gästeblock gestanden sein, um zu wissen, dass man so etwas nie wieder erleben möchte.

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Erinnerung an dunkle Zeiten

Ob es die Wiederauferstehung meiner Zuversicht ist, kann ich nicht genau sagen. Dabei täte es mir selbst so unheimlich gut, nicht ständig in Panik zu verfallen. Lasst euch gesagt sein: bitte glaubt nicht, ich tue das freiwillig. Ich selbst würde am liebsten hoffnungsvoll in jedes Spiel gehen, mich so gut es geht daran erfreuen und mich nicht ärgern, wenn es auf derart unverständliche Art und Weise schief geht wie in den zurückliegenden Partien. Über Jahre hinweg wurde mein Vertrauen zerstört, es dauert eben einige Zeit, bis es wieder aufgebaut werden kann.

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Hätte man mir vor einem halben Jahr gesagt, ich würde diese Zeilen schreiben, während der VfB ungeachtet der zu diesem Zeitpunkt noch ausstehenden Sonntagsspiele auf dem zehnten Platz stehen und mitunter begeisternden Offensivfußball spielen, ich hätte ihn in die geschlossene Anstalt einweisen können. Vor einem halben Jahr sah unsere Realität sehr viel ernüchternder aus. Die ersten gut anzuschauenden Spiele verlor man der Reihe nach, bevor man sich nach einem Remis in Sinsheim mit nur vier Punkten zum ersten Mal in der Saison am Tabellenende wiederfand.

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Die Stimmung war am Boden, Przemyslaw Tyton wurde übel vom eigenen Anhang ausgepfiffen, viel schlimmer konnte es kaum noch werden und wie es besser werden sollte, darauf konnte auf die Schnelle niemand eine Antwort geben. Es waren dunkle Zeiten in Bad Cannstatt, wann immer man den Weg zum Stadion antrat, sei es daheim oder in der Fremde gewesen, man schaute in frustrierte Gesichter, in denen nicht mehr viel Hoffnung zu lesen war. Was hätten wir darum gegeben, neue Zuversicht zu schöpfen? Was hätte ich darum gegeben?

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Definiere „angstfrei“

Es wird mich einige Zeit und Geduld brauchen, an einer Stelle anzukommen, an der ich sagen kann: „Siehst du, man war bereits halb tot, und der VfB ist trotzdem wieder auferstanden“. Das alleine muss mir doch Hoffnung geben, nicht wahr? Ebenso die Erinnerung an die vergangene Saison, als wir vor dem 25. Spieltag lediglich 20 Punkte hatten und mit Ach und Krach zehn Spieltage später noch 16 weitere Punkte holten? Stand jetzt sind wir bei 31 Punkten, die uns keiner mehr nehmen kann, fünf weniger als am letzten Spieltag der vergangenen Saison, und das neun Spieltage vor dem Ende.

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Manche sagen, es brennt nichts mehr an. Ich sage, sie sollen trotzdem konzentriert bleiben und ihr Ding durchziehen. Ein paar gewaltige Kaliber haben wir noch vor uns, doch schläft es sich so viel leichter, nachdem man dreifach gepunktet und die Konkurrenz zumindest teilweise auf Distanz halten konnte. Wen es unten noch mit hinein ziehen wird bis in die letzte entscheidende Phase der Saison, das kann man nur mutmaßen und hoffen, dass es nicht der VfB sein wird.

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Die Chancen stehen nicht schlecht, dass mein eigenes, früh festgelegtes Saisonziel doch noch wahr wird: ein ruhiges, entspanntes und vor allem angstfreies Saisonfinale. Doch was bedeutet für mich eigentlich „angstfrei“? Wo sollte der VfB an den letzten drei Spieltagen stehen, um mir die größten Ängste zu ersparen? Eine Frage, die gar nicht so leicht zu beantworten ist. Wahrscheinlich werden uns ein paar der Großen noch einige Punkte kosten, umso besser, wenn man die Spiele gewinnt, die man gewinnen kann.

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Warten auf eine Trotzreaktion

Ein weiteres Mal hatte ich mich mit meinen Aussagen nach der neuerlichen Niederlage gegen Gladbach unbeliebt gemacht. Der Frust war riesengroß angesichts der Tatsache, dass die Mannschaft alles offenbar vergessen hatte, was sie in den letzten Wochen so ausgezeichnet hat. Nichts wollte zusammenlaufen, umso mehr wurmte da natürlich die bereits gegen Hannover liegen gelassenen Punkte und ich bin mir sicher, dass ich mit diesem Frust nicht alleine da stand. Eine Trotzreaktion gegen Hoffenheim hielt ich für schwierig bis tendenziell ausgeschlossen, in mir wurden die Stimmen wieder laut, es würde doch ein zweites Paderborn geben. Diesmal irrte ich mich. Zum Glück.

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Die Anspannung war spürbar, als ich in den frühen Vormittagsstunden begann, gedankenverloren unsere beiden Kamerataschen zu packen. Jeder Handgriff war zur Routine geworden, das vorsichtige Einlegen der Batterien und Akkus, das penible Kontrollieren und Einsetzen der Speicherkarten, das gewissenhafte Einräumen in die jeweiligen Taschen. Immer und immer wieder tauchte vor meinem inneren Auge auf, die Sebastian Rudy letzte Saison in der Nachspielzeit den Siegtreffer in Hoffenheim machte. Damals tat das unheimlich weh, und es würde mit Sicherheit auch heute weh tun, wenngleich er ausgerechnet an alter Wirkungsstätte nicht mitwirken kann.

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Petrus war uns nicht sonderlich wohlgesonnen und ließ uns bei Nieselregen zum geliebten Neckarstadion laufen. Es war ruhig rund ums Stadion, das medial groß angekündigte Nachbarschaftsduell, fälschlicherweise auch oft als das „Derby“ bezeichnet, das eigentlich gar keines ist, blieb ohne Zwischenfälle. Entspannte Stimmung vor den Toren des Stadions, wenn ich auch oft vernahm, wie schwer es an diesem Tag werden würde. Dringend konnte ich Ablenkung gebrauchen, da kam mir das ungeplante, aber dafür umso erfreulichere Treffen mit Kumpel Senad gerade recht, der mit seinem zuckersüßen Sohnemann gemütlich vorbei schlenderte.

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Alles andere als ein Selbstläufer

Während ich noch meine Sorge formulierte, der VfB würde im Falle des Misserfolgs wieder unten drin hängen, sah Senad das alles um einiges optimistischer. Dennoch würde es keinesfalls ein Selbstläufer werden, das dürfte uns allen bewusst geworden sein. Hoffenheim im Aufwind, der VfB mit zwei gewaltigen Dämpfern zuletzt. Hoffenheim-Coach Julian Nagelsmann, den ich Anfang des Jahres noch als U19-Coach beim Mercedes-Benz JuniorCup gesehen hatte, sprach bei der Pressekonferenz davon, er wolle uns in den Abstiegsstrudel mit hinein ziehen. Alleine für so viel Hochmut gebührte dem jungen Bürschchen eine Zurechtweisung – wie man gesehen hat, mit Erfolg.

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Ich wollte gar nicht darüber nachdenken, was passieren könnte, und doch tat ich es, als ich die Stufen hinab zu meinem Platz lief. Die Reihen in der Kurve waren bereits gut gefüllt, wie eigentlich immer, wenn auch der Rest des Stadions viele leere Plätze aufweist. Gut 48.000 Karten waren im Vorfeld verkauft worden, und sei das Wetter auch mit Regen angekündigt worden, warum zieht es so wenige Leute ins Neckarstadion?

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Umso mehr freute ich mich aber auf das Wiedersehen mit Kölnerin Mareike, die nach einem halben Jahr Abstinenz nach ihrem Bandscheibenvorfall wieder zurück im Stadion war und jede Menge Optimismus mitbrachte – immer her damit, ich konnte ihn schließlich gut gebrauchen. Schon bald konnte es losgehen, immer wieder schaute ich auf die Uhr, getragen von der innerlichen Hoffnung, sie würden das geben, was ihnen in den letzten Partien abging: der hundertprozentige Wille.

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Berauschender Beginn

Es kribbelte gar sehr, als Christian Dingert beide Mannschaften aufs Feld führte und uns der Anpfiff im Glauben ließ, es würde eine zähe Angelegenheit werden, die jedoch gewiss nicht torlos bleiben würde, gemessen an der Statistik der letzten Begegnungen. Wie schnell sich meine Angst vor einer deutlichen Niederlage wie vor drei einhalb Jahren beim 0:3 in jene Glücksgefühle wie vor gut zwei einhalb Jahren beim 6:2 wandeln sollte, wie hätte ich das denn vermuten können? Auch das gehört definitiv zu jenen Dingen, die man eben einfach nicht erklären kann. Die Mannschaft musste reagieren und sie tat es auch. Und wie!

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Der Ball rollte seit wenigen Minuten und auch, wenn ich es nicht auszusprechen wagte, es sah vielversprechend aus. Gutes Pressing, die schnelle Orientierung nach vorne, wohlwollend wahrgenommen vom heimischen Anhang. Sie bauten ordentlich Druck auf und verzeichneten nach gut fünf Minuten den ersten Eckball für sich. Viel machte ich mir nicht daraus, hielt meine Kamera aber trotzdem weit in die Luft in Richtung Kurve, den Finger auf dem Auslöser und den Blick aufs Spielfeld gerichtet. Man weiß ja nie, was sich für Schnappschüsse ergeben, doch war die Wahrscheinlichkeit nicht sonderlich hoch, wenn ich an die 17 Eckbälle im Spiel gegen Hannover denke.

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Weit hatte Filip Kostic vor den Augen des Gästeblocks Anlauf genommen, gut zu erkennen war das immer gleiche Spiel: auf die kurze Ecke, verlängern und an der langen Ecke reinmachen. In der Theorie klingt es einfach, ist es aber in Wahrheit nicht. Gerade wollte ich schon meine Kamera wieder senken, da sah ich noch, wie Lukas Rupp herangerauscht kam und volley aufs Gehäuse schoss. Wieder wartete ich auf den Torjubel vergeblich, bis, ja, bis er mit kleiner Verzögerung folgte. Sechs Minuten rum, 1:0 für den VfB. Das fängt ja gut an!

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Purer Wille

Georg Niedermeier war es gewesen, der nach dem Patzer von Oliver Baumann am schnellsten geschalten hatte. Als hoch über unseren Köpfen die Wiederholung des Tors lief, wandte ich mich an Mareike und Isabel, herzte die beiden und meinte: „Ein typischer Niedermeier“. Kaum einer kann solche glücklichen Tore mehr erzwingen wie unser Niederstrecker. Es war noch viel zu früh, um es laut auszusprechen, aber es sah so viel anders aus als noch drei Tage zuvor in Gladbach, oder gar am letzten Wochenende gegen Hannover, als jedem Spieler ein paar Prozent Einsatzwillen gefehlt zu haben scheinen.

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Pogo im Block nach nicht einmal zehn Minuten. Dieses frühe Tor erfreute nicht nur die gescholtenen Seelen, die bei nass-kaltem Wetter im Gladbacher Gästeblock ausharren mussten, es weckte neue Begehrlichkeiten der Cannstatter Kurve, Hoffnungen, Wünsche, Träume, Sehnsüchte. Uns alle eint nicht nur die Liebe zum Club mit dem roten Brustring, in diesen Zeiten ist es die Hoffnung auf ein entspanntes Saisonende. Jenes gemütliche Beisammensitzen vor den Toren der Kurve nach dem letzten Heimspiel, bei Bier, Wurst und tollen Gesprächen – so sehr verzehre ich mich nach Erleichterung.

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Bis es soweit ist, müssen wir uns noch gedulden, alles geben, genau wie die Mannschaft auch, die sich dieser Aufgabe hoffentlich bewusst ist. Für heute sah es auf jedem Fall danach aus, als hätten sie es tatsächlich verstanden, dass es mehr braucht als 90%, dass man eben Wege gehen muss, die vielleicht auch mal weh tun, um nicht zuletzt jene glücklich zu machen, die in den letzten Jahren genug Unglück mit erleben mussten. Wir alle sind gefragt, wenn es nun in den letzten Spielen darum geht, ob wir das Saisonfinale entspannt genießen können oder ob es doch noch einmal hitzig wird.

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Immer wieder die schlechte Chancenverwertung

Julian Nagelsmann stellte um und verteilte einen Zettel an seine Mannschaft, die ihnen die Neuerung klar machen sollte. Sehr viel half es jedoch nicht, sehr zu unserem Gunsten. Da konnten sie sich sogar erlauben, nach gut einer halben Stunde ein bisschen den Fuß vom Gaspedal zu nehmen, ohne die Gäste gefährlich nah kommen zu lassen. Wie lange das gut gehen würde, das musste die restliche Partie zeigen. Es sah gut aus, sehr gut sogar – doch was heißt das schon für eine Pessimistin wie mich?

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„Hoffentlich rächt sich das nicht“ schoss mir in den Kopf, als sowohl Daniel Didavi als auch Lukas Rupp binnen weniger Sekunden an Oliver Baumann scheiterten. Es hatte sich gerächt vor einer Woche, als man aus gefühlten hunderten Möglichkeiten nur ein einziges Tor machte, das am Ende nicht gereicht hat. Nach gut 30 Minuten hätte es 2:0 stehen können, wenn nicht sogar müssen, doch noch immer stand nur ein Tor auf der Anzeigetafel.

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Ein wenig mulmig wurde mir, ist es doch nicht lange her, als uns unzählige liegen gelassenen Möglichkeiten drei klare Punkte kosteten. Immer wieder tobte Oliver Baumann vor Wut. Und es gefiel mir, denn es konnte nur eines bedeuten: dass der VfB bisher die Pleite in Gladbach gut verarbeitet hat und auf dem besten Wege war, Wiedergutmachung zu leisten. Wenige Minuten noch im ersten Durchgang, und während der Boden unter meinen Füßen vibrierte und mir die lauten Lieder der Cannstatter Kurve im Ohr klangen.

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Erfolgreich angerannt

Immer häufiger war nun zu sehen, wie unsere Jungs dem 2:0 sehr viel näher schienen als die Hoffenheimer dem Ausgleich. Doch was bedeutet das schon, wenn man die Tore nicht macht um am Ende das eine entscheidende zu bekommen? Sie konterten im eigenen Stadion, als hätten sie vergessen, was in den letzten beiden Spielen passiert war. Eines muss man dem gescheiterten Alexander Zorniger lassen, das Anrennen haben sie unter ihm erlernt, unter Jürgen Kramny noch weiter verbessert. Ob auch mit ihm die Punkte irgendwann gekommen wären, kann man nicht mit Gewissheit sagen.

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Wieder waren sie unterwegs, angepeitscht von der Kurve, die so viel Lust auf so viel mehr hatte, sie sehnte sich danach, mindestens ein weiteres Mal im euphorischen Jubel wild durcheinander zu springen, vom Bier geduscht, von der Freude getrieben, wenn man sich ein jedes Mal aufs Neue in seinen Verein und seine Fans verliebt. Wir werden wohl nie herausfinden, ob es tatsächlich so geplant war, was wir wenige Minuten vor der Pause zu Gesicht bekamen. Nach Emiliano Insuas Pass ließ zuerst Daniel Didavi durch, dann Artem Kravets, ersterer noch sehr viel absichtlicher als letzterer, der das wohl nicht so geplant hat.

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Lukas Rupp jedoch ließ nicht durch, er war der letzte von drei Anspielstationen. Mit festem Griff umklammerte ich meine Kamera, die ich aufs Tor gehalten hatte, das linke Auge verschlossen, mit dem rechten Auge durch den Sucher geblickt. „Macht es, macht es, macht es“ flüsterte ich in meinen roten Schal hinein. Mit links gestoppt, ein kurzer Schritt, mit rechts abgezogen. Was sich anfühlte wie eine Ewigkeit war ein Ablauf weniger Sekunden, die nicht nur die Hoffenheimer ins Mark getroffen hatte, sondern uns eine neue Idee davon vermittelt, wie zuckersüß sich der nahende Heimsieg anfühlen kann.

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Bitte mehr davon!

Ich konnte es nicht mehr verheimlichen: das 2:0 brachte mir einen Teil meines Glaubens zurück. Meine Faust ballte ich so fest, dass sich meine Fingernägel in meine Handfläche bohrten, begleitet von einem kreischenden Jubelschrei, der inmitten tausend anderer fast schon unbedeutend erschien. Für einen kleinen Augenblick sah ich mich um, sah die Menschen, die sich in den Armen lagen, breit lachende Gesichter und fühlte das, was ich noch drei Tage zuvor für unmöglich hielt.

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Sekunden später war der kollektive Aufschrei der Begeisterung übergegangen in ein emotionales „Und wenn die ganze Kurve tobt“, da fällt es schwer, die Vorsicht zu bewahren. Auszusprechen vermochte ich es noch nicht, doch bekam ich eine erneute Vorstellung davon, wie schön sich nach weiteren 45 Spielminuten unser geliebtes „Paradise City“ anhören würde, und sei es durch eine unsäglich schlechte Lautsprecheranlage.

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Ungläubige und angespannte Blicke begegneten mir in der Halbzeitpause, als sie sich an mir vorbei schoben. Noch war gar nichts erreicht, doch wenn die Mannschaft das weiter durchzieht, was sie bisher im ersten Durchgang auf den Platz gebracht hat, so müsste mir doch eigentlich nicht Angst und Bange werden. Eigentlich, denn spannend wurde es später trotzdem. Nach dem Seitenwechsel spielten sie auf das Tor vor der Cannstatter Kurve, was für mich im Zweifel bedeutet, mehr zu hören als zu sehen.

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Mit Köpfchen

Bei den Gästen wollte so gar nichts gelingen, so ähnlich wie es uns unter der Woche in Gladbach erging. Bei einer der wenigen Chancen, die sie hatten, schossen sie sich im Strafraum gegenseitig an, mit Argwohn beobachtet von den gut 1.200 mitgereisten Hoffenheimern, die damit in geringerer Anzahl vertreten waren als der VfB unter der Woche im gut 350 Kilometer weiter entfernten Mönchengladbach. Erneuter Eckball für den VfB, wenige Minuten nach Wiederanpfiff. Erneut richtete ich meine Kamera auf die Kurve. Erneut war der Ball im Netz. Erneut war es Georg Niedermeier. Erneut dachte ich mir: „Das ist ja wirklich nicht zu fassen!“

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Mit Wut im Bauch hielt er den Kopf in die Ecke von Filip Kostic. Der erste Doppelpack von Georg Niedermeier zum 3:0 nach gerade einmal 52 Minuten im Duell gegen Hoffenheim. Wer hatte das schon ahnen können vor gut einem halben Jahr, als er aussortiert war und ihnen viele bereits mit der Schubkarre zu einem anderen Verein bringen wollten. Es ist ungewohnt, dieses Gefühl der vermeintlich sicheren Führung, wenn man den Geschmack des Sieges bereits auf der Zunge hat.

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Was sollte in diesem Spiel noch einbrennen? Schnell verwarf ich den Gedanken, denn es kann bekanntermaßen schnell gehen. Leverkusen dient hierbei als bestes Beispiel, als man im Hinspiel eine zweimalige Zwei-Tore-Führung innerhalb von 20 Minuten vergeigte, oder im positiven Sinne auch das Heimspiel in der vergangenen Saison, als der VfB nach einem 0:3-Pausen-Rückstand noch ein Unentschieden machte.

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Fünf Minuten zwischen Zweifeln und Zuversicht

Mit drei Toren im Rücken ließen sie es abermals etwas entspannter angehen, zu entspannt für meinen Geschmack. Auf einmal kam Hoffenheim zu Gelegenheiten durch den bereits in der ersten Halbzeit eingewechselten Andrej Kramaric. Der VfB stand tief und lauerte auf einen weiteren Konter, der das Spiel vorzeitig entscheiden würde. Manch andere geben sich beim 3:0 zufrieden, doch der VfB-Fan hat, wie wir von der Aktion „Wir steigen in den Ring“ wissen, auch 20 Minuten nach Abpfiff noch immer Angst vor späten Gegentoren.

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Eine Angst, die nicht ganz unbegründet ist. Für einen Moment ließ man Andrej Kramaric aus den Augen, da zog er eiskalt ab und ließ Przemyslaw Tyton keine Chance. Viele registrierten das Gegentor nicht einmal, zu verhalten der Jubel aus dem Hoffenheimer Gästeblock und von der Trainerbank. So gerne wollte ich darauf verzichten, dass es hier doch noch einmal spannend wird, stattdessen erlebten wir ein paar Minuten der Ungewissheit.

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Ich vermag mir nicht auszumalen, was passiert wäre, hätte Przemyslaw Tyton, dessen Namen ich auch nach einem dreiviertel Jahr noch immer von der VfB-Webseite herauskopieren muss, den Lupfer von Jonathan Schmid nicht festhalten können. Tief durchatmen, es wurde doch noch einmal spannend, die Angst war zurück und die Hoffenheimer schienen Morgenluft zu schnuppern. Bangen, Hoffen, Zittern, die Erfahrung aus Leverkusen war schmerzhaft genug.

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Allen davongelaufen

Gut zwölf Minuten plus Nachspielzeit. Vielleicht hätte es auch so gereicht, vielleicht aber auch nicht. Da stand ich nun, unfreiwillig angespannt nach diesen drei wunderbar erzielten Toren und sehnte mich nach dem einen entscheidenden Treffer, der uns erlösen und den Gästen endgültig den Zahn ziehen würde. Die Gäste konterten, bis Serey Dié den Ball zurück eroberte und ihn auf Filip Kostic spielte. Der lief. Und lief. Und lief. Und lief. Und lief. Ein Raunen ging durchs Publikum, jenes sehnsuchtsvolle Geräusch, was man vernehmen kann, bevor Großes passiert.

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Ein Haken. Zwei Haken. Sehen konnte ich nicht das geringste, außer dass der Serbe noch immer nach einem Sprint übers halbe Spielfeld am Ball gewesen war. Die Mauer und die darauf aufgestützten Leute versperrten mir die Sicht, nur auf mein Gehör konnte ich mich verlassen. Es enttäuschte mich nicht. Er enttäuschte mich nicht. Filip Kostic erlöste uns fünf Minuten nach dem Hoffenheimer Anschlusstreffer endgültig. Was. Für. Ein. Fußballer.

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Klopfte er sich nur auf das Wappen oder küsste er es sogar? Wer hat es schon genau beobachten können, ich weiß es nicht. Viel bedeuten wird ihm das im kommenden Sommer vielleicht nicht mehr und ob er sich der Tragweite dieser Tat bewusst ist, kann ich auch nicht beantworten. Sollte er nicht clever und erfahren genug sein, um zu wissen, was für Emotionen er mit einer solchen Geste beim Fan-Herz erzeugt? Wohin auch immer der Weg von Filip Kostic führt, ich bin dankbar, dass ich einen Typen wie ihn in Stuttgart sehen durfte.

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Einer geht noch, einer geht noch rein!

Für einen beinahe zu jeder Zeit ungefährdeten Sieg hatten sie nun genug. Für die Wiedergutmachung zweier in der Art und Weise völlig unverständlicher Niederlagen allerdings noch nicht. Sie wollten mehr und es tat so gut, sie dabei zu beobachten. Immer wieder, immer weiter, immer schneller. Viel gemein hatten sie mit der Mannschaft aus der Hinrunde nicht mehr, seien es auch die gleichen Spieler, die gleichen Trikots, die gleichen Namen. Ein Trainerwechsel mit einer Wirkung, wie sie niemand hatte voraussagen können. Selbst Jürgen Kramny hatte sich das so nicht erträumen können.

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Hätte man es nicht mit eigenen Augen gesehen, so könnte man glauben, dass die Flanke von Daniel Schwaab gekommen war, direkt gespielt in den Lauf vom in der 68. Minute für Artem Kravets eingewechselten Timo Werner. Wieder konnte ich nicht sehen, wo der Ball hinging, doch das laute Geschrei um mich herum und das wilde Getöse bestätigten mich in der Annahme, dass der Bursche das nachholte, was ihm eine Woche zuvor nicht gelang: den Ball im Tor unterzubringen und nicht daneben, sei es vergangene Woche auch sehr viel wichtiger und entscheidender gewesen.

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Mit dem Außenrist an den Pfosten, von dort ins Tor. Vor einer entfesselten Cannstatter Kurve legte er sich den Finger auf die Lippen, als wollte er allen Kritikern ein Zeichen geben wollte. Übermäßig analysieren sollte man diese Geste nicht, aus dem Affekt entstanden sei es ihm zugestanden. Die Klatsche in Gladbach war nun zumindest in Sachen Tordifferenz ausgeglichen, doch das war in diesem Moment nur nebensächlich.

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Sehr viel deutlicher als erwartet

Was tut man als Fan, wenn es nicht mehr notwendig ist, den Ball selbst ins Tor hinein zu schreien? Richtig, man feiert die Mannschaft, den nun sicheren Heimsieg und vor allem sich selbst. Wir haben es uns verdient, ohne jeden Zweifel. In den letzten Minuten schwappte die Laola-Welle durchs Stadion und ließ uns die letzten Momente in vollen Zügen auskosten. Vergessen waren die beiden Niederlagen deswegen nicht, aber sie waren zumindest einigermaßen wieder wettgemacht.

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Christian Dingert hatte Mitleid mit den Kraichgauern, ohne jegliche Nachspielzeit war es vorbei. Schade eigentlich, ich hatte nicht einmal Zeit, die Anzeigetafel zu fotografieren (an der Stelle Danke an meinen geschätzten Fotografenkollegen Markus, dass ich sein Bild hier im Spielbericht verwenden darf!). Für meine Panikmache im Vorfeld würde ich mir jetzt im Nachgang einiges anhören müssen, dessen war ich mir vollumfänglich bewusst. Im Hier und Jetzt feierte ich aber eine Mannschaft, die genau die richtige Reaktion gezeigt hat und nicht zuletzt auch uns Fans zeigte, dass man sie nach zwei Niederlagen nicht abschreiben darf.

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Lange Zeit, nachdem wir den Sieg mit der Mannschaft gefeiert hatten, stand ich noch immer mit Mareike und Isabel im Block, grinsend und ein wenig kopfschüttelnd, zu unglaublich, was da passiert war. Manche würden sagen „Habe ich doch gewusst“, doch nein, das konnte man nicht gewusst haben. Nicht in dieser Art und Weise. Nicht in dieser Deutlichkeit. Die ersten Lichter gingen aus, als wir als Letzte den Block 33 verlassen hatten und hinter uns die Rolltore geschlossen wurden.

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Nur nicht nachlassen

Glückliche Gesichter, wohin ich auch schaute. Ein Sieg mit Signalwirkung? Wir werden es sehen, wenn uns die nächsten drei schwer zu spielenden Partien gegen Ingolstadt, Leverkusen und Darmstadt erwarten. Nichts als Erleichterung fühlte ich, nicht unbedingt wegen der drei Punkte allein, vielmehr war es die Rückkehr einer ansprechenden Mannschaftsleistung, die mich entzückte. Ich habe nicht vergessen, welche Worte ich zuletzt gefunden hatte, auch bin ich mir bewusst, dass viele davon zu hart gewesen sind.

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Besondere Spiele erfordern mitunter besondere Feierlichkeiten. Wo sich normalerweise die Wege von mir und unseren Freunden trennen, damit ich daheim in aller Ruhe unsere Bilder sichten und sortieren kann, fällte ich spontan die Entscheidung, die nahe gelegene Fankneipe aufzusuchen und mir zwei Radler zu gönnen, die auf leeren Magen schnell einen vernebelten Blick verursachten. Bis in die Nachtstunden saß ich da, grinsend, Bilder bearbeitend, und neue Hoffnung schöpfend.

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Vielleicht wäre es gar nicht so verkehrt, die Mannschaft einfach mal machen zu lassen und darauf zu vertrauen, dass sie uns ein entspanntes Saisonfinale bescheren können. Doch darauf verlassen will ich mich trotz allem nicht, es gilt nun, die Spannung hoch zu halten und alle Punkte mitzunehmen, die man mitnehmen kann. Bis dahin ist Zuversicht angesagt. Eine Aufgabe, die für mich persönlich sehr viel schwerer erscheint als für manchen Anderen, der diese Zeilen liest, milde lächelt und sich denkt, dass es sich mit Optimismus so viel leichter lebt. Nur weiß ich eben nicht, wie es geht.

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