“Das wird morgen richtig wehtun”, das wusste ich sofort. Meine Hand glitt über mein rechtes Knie, das dick angeschwollen war. Unzählige Male wurde ich gegen die vorderen und hinteren Sitzreihen gedrückt, eine äußerst schmerzhafte Angelegenheit, möchte man meinen. Doch ich fühlte keinen Schmerz. Da stand ich, schaute in den Glasgower Nachthimmel und stieß einen tiefen, glücklichen Seufzer aus. Die Gänsehaut auf meiner Haut wollte einfach nicht weichen, und ich gestattete es ihr auch nicht.
5 Stunden zuvor…
Wenn man mir vor 3 Jahren gesagt hätte, dass ich für ein Champions League Spiel in Schottland zum allerersten Mal in meine Leben ein Flugzeug besteigen würde, hätte ich es nicht für möglich gehalten. Nun war ich hier, in Glasgow, nicht mehr lange hin bis zum Anpfiff des möglicherweise vorentscheidenden Spiels gegen die Glasgow Rangers.
Die meisten der mitgereisten VfB-Fans aus ganz Deutschland fanden sich in der Kneipe “The Ark” ein, wo ich bereits mit den Jungs und Mädels des Fanclubs “Cannstatter Kurve Berlin ’08” am Abend zuvor bereits vor-vor-geglüht hatte. Nun war der Schuppen zum Bersten voll, einige bekannte Gesichter, viele mir (noch) Unbekannte. Mit frisch gewechselten Batterien und dick gepolstert im Zwiebelsystem (alles anziehen, was man mitgenommen hat) genoss ich die Zeit vor dem Spiel, bis man sich gegen 6 Uhr Abends gemeinsam auf den Weg machte.
Das Gefühl, zu Hunderten durch die Straßen zu marschieren und dabei sämtliche Blicke auf sich zu ziehen, war zweifelsohne etwas Besonderes. Bis zur U-Bahn-Station dachte und hoffte ich, alles würde glatt gehen. Doch leider dachten die Schotten nicht daran, die Eintrittskarte für das Spiel als Kombiticket inklusive Bahnkarte auszustatten, was zur Folge hatte, dass der “Mob” in der U-Bahn-Station in 2 Gruppen getrennt wurde.
Man stelle sich vor, dass Hunderte von Fans innerhalb weniger Minuten einzeln ein Fahrticket holen müssen, die Massen stauten sich an vor den 2 winzigen Verkaufsschaltern, überall Ordner und Polizisten. Einer der Ordner an der linken Seite, direkt an der Wand, winkte mich durch als Reaktion meiner blasser werdenden Gesichtsfarbe, während ich immer weiter nach vorne gegen die Ordner gedrückt wurde. Damit war ein anderer Ordner nicht einverstanden, der das Durchwinken nicht registriert hatte und mich brutal in die Menge zurück drückte. Mir wurde schwindelig, auf einmal war mir gar nicht mehr wohl.
Als die erste große Gruppe im U-Bahn-Schacht verschwunden war, dauerte es nicht lange, bis sie schimpfend und protestierend wieder zurückkamen – man sollte sich auf 2 Wagen verteilen, wo es in Deutschland üblich ist, sich noch irgendwie hinein zu quetschen. Aus Protest verließen sie die U-Bahn-Station und gingen zu Fuß, weitere schlossen sich an. Ich blieb bei einigen der Jungs und Mädels vom Fanclub, wir hatten unser Ticket bereits gelöst und stiegen in die U-Bahn ein, nach nur 10 Minuten Fahrt waren wir bereits da, während die zu Fuß Gegangenen doppelt so lange benötigten.
Es war dunkel, es nieselte und es war kalt, typisch schottisches Wetter eben, das man sich widerlicher kaum hätte vorstellen können. Auf den letzten Metern vor dem großen Ibrox Park im Glasgower Stadtteil Ibrox. An den Eingängen trennten sich fürs erste unsere Wege, da ich meine Karte für den Block BF5 hatte, die Stuttgarter Ultras im Block BF4 direkt daneben.
Dort traf ich auch schon meinen Kumpel Alex, der schon auf mich gewartet hatte, ein kurzes Schwätzchen,bevor mich eine SMS unterbrochen hatte: Martin, ebenfalls ein guter Kumpel, war auch in der Nähe, man hatte sich noch nicht getroffen, seit ich in Glasgow angekommen war, dabei hatte man es sich schon Monate zu vor fest vorgenommen.
Der Gästebereich des Stadions füllte sich stetig, um noch einen guten Platz zu bekommen, nahm ich auch recht früh meinen Platz ein, nachdem ich mich in Block BF4 rübergeschmuggelt hatte. In der 4. Reihe sah ich noch verhältnismäßig gut und würde von der tollen Stimmung im Gästeblock ordentlich etwas abbekommen, auf dass dieser Abend erfolgreich enden würde, nach trostlosen 10 Spielen ohne einen einzigen Sieg.
Auch die Ultras schafften es noch rechtzeitig und nahmen ihre Positionen ein, die Stimmung war von Anfang an hervorragend, wo auf den Tribünen für Rangers Fans noch gähnende Leere herrschte. Während wir uns schon einstimmten auf das Spiel, stieg die Spannung immer mehr, es wurde immer enger, denn immer mehr quetschten sich in den Block, für den sie ursprünglich keine Karten hatten.
Da waren sie, die Protagonisten dieses Märchens, vor dem Aufwärmen kamen sie zu uns in die Kurve und bedankten sich schon vorab für die zahlreiche Unterstützung von 2.500 Fans, die nach Glasgow gereist sind, zu Wasser mit der Fähre oder in der Luft mit dem Flieger.
Das Spiel wurde angepfiffen, endlich, so viele Monate des Wartens und der Geduld, der Vorfreude und der Hoffnung, all das für diesen Moment. Sie begannen prima, unsere Jungs, wie so oft in den letzten Wochen, doch es wäre verrückt, nur deswegen davon auszugehen, es würde schon irgendwie gut gehen, heute mussten sie mehr geben, nein, sie mussten alles geben. Und mit einer fantastischen Stimmung aus dem Gästeblock heraus sollte dieser Traum an jenem 24.11.2009 wahr werden.
Während wir sangen, hüpften und schrien, spielte der VfB auf uns gegenüber liegende Tor in Richtung der Rangers-Fans. Gerade mal eine Viertelstunde war gespielt, und die pure Euphorie brach aus – Jungstar Sebastian Rudy erzielte in der 16. Minute das 1:0 aus Sicht der Stuttgarter. Rumms – Rumms – Rumms – unbarmherzig schlug ich dauernd mit den unteren Extremitäten gegen die Stuhlreihen vor mir, aber es war mir egal. Die frühe Führung, so geht es gut los. Neben mir wurde ein Bengalo gezündet und hüllte den Gästeblock für mehrere Minuten in Rauch.
Die Zeit, die ich diesem Stadion, in diesem Gästeblock, mit diesen Leuten erleben durfte, werde ich meinen Lebtag nicht vergessen. Mein Blick schweifte immer wieder durch das große Stadion, das vom FIFA Weltverbund mit 5 von 5 Sternen auszeichnet wurde, auf der Suche nach den stimmungsmachenden Rangers-Fans – ich habe sie nicht gefunden. Gab es sie überhaupt? Da habe ich meine leisen Zweifel. Denn an diesem Abend hat Glasgow nur eines gehört: 2.500 VfB-Fans, die für ihre Mannschaft, für ihren Verein alles gaben.
Fotos: www.lostboys99.de
Wenn ich vorher gewusst hätte, dass ich beim Eintritt nicht einmal kurz abgetastet werde, hätte ich Ersatzbatterien mitnehmen können – so kam es dazu, dass ich nur dieses eine Paar hatte, dass ich im Hostel nach der Stadionführung im Celtic Park noch schnell auswechseln konnte. Ein ganzes Paket an Speicherkarten, aber kein Saft in petto. Die Angst, mit langen Videos von der gigantischen Stimmung im Gästeblock meine Kamera endgültig in die Knie zu zwingen, bevor das Spiel zu Ende ist, war groß. Und so beließ ich bei nur wenigen Fotos. Es ist das einzige, was ich nach diesen 3 Tagen in der größten Stadt Schottlands bitter bereue. Meiner Stimmung tat das dennoch keinen Abbruch, erlebte ich hier doch zweifelsohne berauschende Momente. Die Halbzeitpause war eine Erleichterung, konnte ich mich doch für einen Moment hinsetzen und meine lädierten Gliedmaßen ausruhen. Wenn auch nicht für lange.
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Weiter ging es mit Durchang 2, die Jungs sollten nun auf das Tor neben uns spielen, und opimalerweise auch nochmal treffen. Chance um Chance erspielten wir uns, einzig und allein im Abschluss scheiterte es eins ums andere Mal, das ist leider nichts neues. Wenn jede oder jede 2. Chance ein Tor wäre, hätte es nach nun knapp einer Stunde schon 3:0 oder höher stehen müssen. Doch es stand “nur” 1:0 – bis zur 59. Minute, als der Torschütze des 1:0, Sebastian Rudy, eine super Vorarbeit leistete und der Ball schließlich von unserem Neuzugang Zdravko Kuzmanovic per Kopf ins Netz gedroschen wurde. In diesem Moment war mir klar: dieses Spiel gewinnen wir. Zu weiteren Gedanken konnte man in diesem Moment auch nicht im Stande sein, der ganze Gästeblock stand Kopf, ich umarmte jeden, den ich gerade zu Greifen bekam.
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Mit breiter Brust schrien wir unsere Emotionen raus, wir gaben alles, was unsere Lungen hergaben, während wir weiter laut durch das Stadion hallten. “Der VfB ist wieder da!” sangen wir, als wären wir dafür geboren worden. Ich wünschte mir so sehr, dass es wahr ist, dass dies die lang ersehnte Wende war, auf die wir seit Wochen so sehnlichst gewartet haben.
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Die Sitzplätze der Rangers-Fans lichteten sich langsam, hatten sie doch offensichtlich schon die Schnauze voll. Auf der Anzeigetafel verfolgten wir, dass Unirea Urziceni gegen den ohnehin schon weiter gekommenen Sevilla FC vorne liegt – schlecht für uns, würde sich nun alles im letzten Gruppenspiel entscheiden, noch schlechter für die Rangers, waren sie somit definitiv ausgeschieden ohne jegliche Chance auf das Weiterspielen in der Europa League (ehemals UEFA-Cup).
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Genüsslich sangen wir “Auf Wiedersehen!” – und erhielten als Antwort das einzige laute Lied, zu dem die Fans der Rangers an diesem Abend im Stande waren: “10 german bombers” – uns ärgerte die Provokation wohl kaum, im Gegenteil, setzten wir der Demütigung der Schotten noch einen drauf, es wurde zu ein paar unbeschreiblichen Minuten, die mir beim Schreiben dieser Zeilen erneut eine Gänsehaut machen.
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Es gehört wohl zu den schönsten Dingen, die man in einem Stadion auf einer Auswärtsfahrt erleben kann: einen mehr als verdienten Sieg der eigenen Mannschaft und eine tolle Stimmung. Unter dem Aspekt, dass die Rangers-Fans an Stimmung nichts bieten konnten, wurde es umso bewegender. Ich werde nie vergessen, wie 2.500 VfB-Fans im Gästeblock ihre Schals nach oben streckten und anfingen, “You’ll never walk alone” zu singen. Unbeschreiblich.
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Genau das treibte den Rangers-Fans die Zornesröte ins Gesicht, sie pfiffen uns aus, als wollten sie uns empört fragen, was wir uns denn erlauben würden. Grund genug für die weiß-rote Anhängerschaft, noch lauter, noch inbrünstiger und noch leidenschaftlicher die Botschaft in die Nacht zu singen: du bist nicht allein, wenn du durch den Regen gehen musst. Was so melancholisch klingt, war lediglich der Regen, der auf das Spielfeld fiel, während wir im trockenen blieben.
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Bis zum Ende des Spiels passierte nicht mehr viel auf dem Platz, die Jungs versäumten es leider, noch weitere Tore zu machen, wozu sie durchaus im Stande gewesen wären. Der Sieg war ungefährdet und so war der Abpfiff nicht die große Erleichterung, die man manche Male empfindet, vielmehr das goldene Siegel unter ein tolles Spiel.
Klatschend und frei von jeglicher Anspannung kam die Mannschaft in die Kurve und wurde an diesem Abend zu Recht frenetisch gefeiert. “Hinsetzen!” hallte es durch die Reihen, gesagt, getan. Auch die Jungs hielten sich daran und nahmen Platz auf dem durchweichten Rasen direkt vor uns. “Geeeeebt mir ein U!” – “U!!!” begann der Vorsänger und stimmte das berühmt berüchtige und lange nicht mehr gehörte “Umba, Umba, Umba, Tätäräääää” an, eine Szene wie aus einem Bilderbuch, 2.500 VfB-Fans, die sich die kleinen Kinder freuten und wild durch die Reihen hopsten, im Einklang mit unserer Mannschaft, die mit uns gefeiert hat.
Wie es bei internationalen Spielen so üblich ist, wurde eine Blocksperre über den Gästebereich verhängt, alles im grünen Bereich, das ist auch vernünftig, um den frustrierten Schotten aus dem Weg zu gehen. Alles schmerzte, mein Knie schwoll an und das Stehen und Laufen fiel mir schwer. Doch ich stand tapfer, voller Stolz, voller Begeisterung für das, was ich hier und heute erleben durfte.
Beim Rausgehen traf ich ein paar der Jungs vom Fanclub wieder, auch von einem guten Freund verabschiedete ich mich vor dem Ausgang, es war an der Zeit. Ein Stückchen gingen wir zu Fuß, bevor wir uns in einen Bus quetschten, unbemerkt kam ich am Busfahrer vorbei, ohne Ticket, aber mit jeder Menge Glück, denn viele wurden wieder zurückgerufen.
Es ging direkt in die Hotelbar “Osmosis”, an dieser Stelle endet das Märchen von Glasgow, weiter geht es im allgemeinen Glasgowartikel: Zum ersten Mal auf der Insel.
33 Jahre, gebürtig aus Leipzig, seit 2010 wohnhaft in Stuttgart – Bad Cannstatt. Dauerkartenbesitzerin, Mitglied, ehemalige (Fast-)Allesfahrerin und Fotografin für vfb-bilder.de. Aus Liebe zum VfB Stuttgart berichte ich hier von meinen Erlebnissen – im Stadion und Abseits davon.
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