Ich hatte das alles schon hinter mir gelassen. Dieses Aufregen, dieses Ärgern, diesen Frust. Ich wollte nicht mehr, dass der VfB darüber bestimmt, wie meine Stimmung sein soll, nicht nur an einem Wochenende, sondern für die ganze Woche. Ich war es leid, mich von diesem Trauerspiel emotional beeinflussen lassen. Und so traf ich eine Entscheidung: Gelassener werden, selbst wenn der VfB auf dämlichste Art und Weise verliert. Das hat in den letzten Wochen ganz passabel funktioniert, ich konzentrierte mich auf die Arbeit und die schönen Dinge des Lebens. Und dann kam Schalke. Zu spüren, wie es einen dann doch beschäftigt, aufwühlt und ärgert, ist etwas, was ich vor Weihnachten eigentlich nicht mehr gebraucht hätte.
Mein Kumpel Patrick aus Aschaffenburg schrieb noch am selben Abend etwas, über das ich bis heute lange nachdenken musste. Etwas, das im Kern so wahr und gleichzeitig ein Stück weit erschreckend ist: “Ich hab’s einfach nur satt die Lachnummer der Bundesliga zu sein”. Was im ersten Moment boshaft klingt, ist der Kern der Enttäuschung, der unser Dasein als VfB-Fan seit einigen Jahren begleitet, wenn auch mit wenigen Ausnahmen. Geht es nur uns so oder denken das andere Fans von sich auch? Wo auch immer der VfB in dieser Saison antritt, daheim oder auswärts, die Wahrscheinlichkeit, es zu vergeigen, ist um einiges größer.
Von einer einstigen Erwartungshaltung ist nicht mehr viel übrig geblieben, lange hatten wir hier zumindest noch unseren Stolz. Aber wie soll er Bestand haben, wenn man sich bisweilen einfach nur noch schämt? Wie oft musste man sich denn schon in den letzten Jahren anhören, der VfB spiele wie ein Absteiger? Lediglich die Zweitligasaison und die Rückrunde unter Tayfun Korkut befreiten uns für einen gewissen Zeitraum von dem Gefühl, das Patrick beschreibt: Anhänger eines Vereins zu sein, der so ziemlich alles falsch macht, was man falsch machen kann.
Alle Jahre wieder brennt der Baum beim VfB
Wer das Glück hat, bereits mit dem Abpfiff den Verdrängungsprozess in Gang gesetzt zu haben, sei es mit mentaler Kraft, als auch mit der Kraft des Alkohol, der darf sich glücklich schätzen. Noch zu fortschreitender Stunde an den Bildern zu sitzen und immer wieder wissentlich und unwissentlich abgelenkt zu werden, und am Tag danach noch ein paar Zeilen dazuzuschreiben, trägt nicht zu einem schnellen Vergessen bei. Es ist die letzte große Hürde, bevor man sich ein paar Wochen zurücklehnen kann und nicht an den VfB denken muss.
Während die meisten die Feiertage mit ihren Liebsten verbringen dürften, beginnt für die Mannschaft eine sehr kurze Zeit der Vorbereitung. Markus Weinzierl wird alle Register ziehen müssen, diesem – Entschuldigung! – Trümmerhaufen das Kämpfen beizubringen. Ob ihm das gelingen wird, werden wir sehen. Ob er das durchzieht, werden wir sehen. Ob es am Ende noch zum Klassenhalt reicht, werden wir sehen. Das Bild eines vom triefenden Regen durchnässten Markus Weinzierl unter dem Plexiglasdach der Trainerbank wurde zum traurigen Sinnbild für die aktuelle Phase unseres Vereins. Man könnte es ihm nicht einmal verübeln, wenn er diese Aufgabe als gescheiert ansieht und das Handtuch wirft.
Bei allem nötigen Respekt Schalke gegenüber, es gab Zeiten, da war ich mir schonmal sicherer, dass der Gegner besser sein würde. Nach einer Hinrunde zum Vergessen wollten die Königsblauen nur noch eins, sich irgendwie in die Winterpause retten und neue Kräfte sammeln. In dieser Phase der Saison zählt Schalke wohl eher zu den schwächsten Teams der Liga. Wer wäre da als Aufbaugegner besser geeignet als der VfB? Das Erschreckende ist: bei uns kommt so etwas stets mit Vorwarnung. Seit Jahren zieht es sich durch, dass schwächelnde Mannschaften gegen den VfB neuen Mut schöpfen. Und wir Fans können nur zuschauen.
Zehn Minuten reichen eben nicht
Eigentlich wollte mir das letzte Heimspiel 2018 so gar nicht in meine vorweihnachtliche Organisation hineinlaufen. Nachdem ich mich von meinem Chef in den Weihnachtsurlaub verabschiedet hatte, lief er die Treppe hinunter und rief noch hinterher “Und viel Erfolg noch morgen!” – Oh Gott. Da war ja noch was. Nervlich und emotional habe ich das Fußballjahr bereits abgehakt, ein letztes Mal noch ins Neckarstadion, ein letztes Mal Fotos machen, ein letztes Mal Spielbericht schreiben. Und das, obwohl man daheim eigentlich noch mehr zu tun hat, als man alleine bewältigen kann. Das alles nützte nichts und so machten wir uns auf den Weg mit nur einem Gedanken: “Hoffentlich wirds nicht ganz so schlimm.”
Bis kurz vor Anpfiff blieben weite Teile des Stadions leer, erst kurz vor Spielbeginn füllten sich die Plätze und auch in der Kurve wurde es doch noch einmal etwas enger. Auf der Anzeigetafel standen später gut 55.000 Zuschauer, davon sehr viele Schalker und sicher auch viele, deren Ticket zwar mitgezählt wurde, diese aber schlichtweg nicht erschienen waren. Nach der Niederlage in Wolfsburg am Dienstag, die ich nicht einmal im Fernsehen anschauen konnte, als ich bei unserer Weihnachtsfeier verweilte, galt es einzig und allein darum, noch einmal so etwas wie einen versöhnlichen Jahresabschluss zu schaffen. Wirklich daran glauben konnte ich nicht.
Zehn Minuten lang schien der Plan, sich gut zu präsentieren und kämpferisch dagegen zu halten, auch einigermaßen aufzugehen. Dass ein Spiel bekanntermaßen 90 Minuten lang ist, erschwerte die Aufgabe allerdings ungemein. So rannte man schon früh einem Rückstand hinterher, Steven Skrzybski traf zum 0:1, nicht weiter überraschend, aber letztlich doch der Auftakt zu einem frustrierenden Spiel. Kein echter Zugriff auf den Gegner, viel zu viele verlorene Bälle und eine Abwehr, die völlig von der Rolle ist. Nicht die besten Voraussetzungen, gegen den vermeintlichen Lieblingsgegner zuhause zu punkten.
Eine unfassbare Szene
Als wir vor fast drei Monaten ein völlig verrücktes Spiel gegen Werder Bremen gewonnen hatten (richtig, das war das Spiel mit dem Einwurf-Eigentor), konnte einem der Junge nur noch leid tun. Immer wieder hatte er versucht zu treffen und schaffte es einfach nicht. Am Ende feierten wir mit der Mannschaft, Nico Gonzalez ließ sich aber nicht trösten. Nichts schien in diesem Moment schlimmer zu sein. Wenn er gewusst hätte, was kurz vor Weihnachten folgen würde, er hätte die wohlwollende Aufmunterung der Cannstatter Kurve lieber angenommen.
Auch am Tag danach kann ich nicht glauben, was da passiert ist. Der VfB lag zurück, mühte sich zwar, aber war völlig überfordert. Und dann tauchte das leere Tore auf einmal auf. Direkt vor den Füßen von Nico Gonzalez, unserem einst so hoffnungsvoll an den Neckar gewechselten Neuzugang aus Argentinien. Ralf Fährmann hatte sich verschätzt, das Tor stand leer, der Junge musste nur noch den Ball unterbringen in einem sieben einhalb Meter breitem und zwei einhalb Metern hohem Kasten. Ich riss meine Kamera hoch und als ich den Ball fliegen sah, hörte ich die Leute schon schreien. Das muss der Ausgleich sein. Der Schrei verstummte und schlug um in blankes Entsetzen. Pfosten. Wie bitter kann es eigentlich laufen?
Fürs erste blieb es bei der knappen Führung für die Schalker, aber von dem vergebenen Ausgleich durch Nico Gonzalez konnte sich der VfB nicht mehr erholen. Selbst die unterdurchschnittlich schwachen Schalker schienen eine Nummer zu groß zu sein für unsere Mannschaft, da half auch das Anpeitschen von den Rängen nicht, zu denen sich mit fortlaufender Spieldauer immer mehr Pfiffe mischten. Das 0:2 nach 70 Minuten schien unser Schicksal zu besiegeln und weil das alles noch nicht bitter genug war, musste es ein Eigentor sein. Es war die Schulter von Mario Gomez, die den Ball ins eigene Tor lenkte, genau ein Jahr, nachdem seine Rückkehr verkündet wurde und mir den Boden unter den Füßen weggerissen hatte. Als würde alles, was in einer Hinrunde schief gehen, noch einmal sinnbildlich im letzten Spiel zusammenkommen.
Von Hoffnungsschimmern und Feingefühl
Kurze Zeit später keimte ein wenig Hoffnung, als Nico Gonzalez doch noch sein erstes Tor machte. Beinahe eine Kopie des zweiten Tors vor einer Woche gegen die Hertha, ein wenig ironisch war das schon. Zwei Minuten später war aber auch die Freude und Hoffnung vergebens, Schalke zog nach und das Spiel war zwölf Minuten vor dem Abpfiff bereits entschieden. Der Wille war gebrochen und dass mehrere Ticker geschrieben hatten, es hätte noch deutlicher ausgehen können, machte das alles auch nicht besser zu ertragen. Ein Teil von mir nahm es mit einer gewissen Gleichgültigkeit und einer “Hab ichs mir doch gleich gedacht”-Haltung zur Kenntnis, der andere Teil schaute trotzdem frustriert drein.
Die Rudelbildung kurz vor Ende der offiziellen Spielzeit rundete das Bild eines komplett miesen Tages ab. Dass Gonzalo Castro kein Rot bekam, nachdem er Nabil Bentaleb mehrere Sekunden im Schwitzkasten hielt und ihn über den Boden schleifte, ist das einzige, das mich verwundert hatte. Vierfach-Gelb sieht man in der Bundesliga zumindest auch nicht so häufig. Es wurde still in der Cannstatter Kurve. So still, dass man die Durchsage des Vorschreiers klar und deutlich hören konnte. Jedem sei selbst überlassen, wie er mit der Mannschaft nach dem Abpfiff umgehen würde. Ich rechnete nur mit einem: einem derart schallenden Pfeifkonzert, das die Mannschaft noch vor der Strafraumlinie umkehren lässt. Stattdessen bewies die Kurve ein weiteres Mal ihr feines Gespür.
Im Dauerregen war es nicht mehr notwendig, sich das nasse Gesicht abzuwischen, einer tat es aber trotzdem. Als sich die Mannschaft langsam auf die Kurve zubewegte, hoben wir im Kollektiv unsere Hände. Kein “VfB Stuttgart das sind wir”, kein “Wir wollen euch kämpfen sehen”, kein “Wir haben die Schnauze voll”. Laut erhallte unser Ruf: “Christian Gentner”. Für solche Momente hat die Kurve schon oft ein besonderes Gefühl gehabt, auch wenn die Kritik von den Rängen häufig klar und ungeschönt ist. Was hängen bleiben wird, ist ein sensationelles Spruchband vom Schwabensturm, das Wiedersehen mit liebgewonnenen Freunden vor dem Spiel und das Wissen, dass die Kurve auch sehr feinfühlig sein kann. Und natürlich die Tatsache, bei einem leeren Tor den Pfosten zu treffen. Auch wenn er das nicht absichtlich gemacht hat.
33 Jahre, gebürtig aus Leipzig, seit 2010 wohnhaft in Stuttgart – Bad Cannstatt. Dauerkartenbesitzerin, Mitglied, ehemalige (Fast-)Allesfahrerin und Fotografin für vfb-bilder.de. Aus Liebe zum VfB Stuttgart berichte ich hier von meinen Erlebnissen – im Stadion und Abseits davon.
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