Meine bessere Hälfte hat bisweilen einen seltsamen Sinn für Humor. Vor uns lag noch ein gutes Stück A6, die Sonne ging gerade auf und er legte ein ganz besonderes Lied auf. Aus den Lautsprechern dröhnte “Schade, Scheiße, wie kann das passieren? Wie konnten wir gegen so was verlieren?” Auf dem Weg nach Nürnberg, wo alles andere als ein Sieg einem vorzeitigen Abstieg gefühlt gleichgekommen wäre, fand ich das nur bedingt lustig. Eine gewisse Anspannung konnte ich nicht verbergen, ohne Zweifel war diese Partie enorm wichtig, um sich noch ein Stück Resthoffnung für diese Saison bewahren zu können. Siegen oder Fliegen. Kämpfen oder Gehen. Tod oder Gladiolen. Wie auch immer man es zu nennen vermochte – es stand viel auf dem Spiel.

Elf Gegentore in drei Spielen, null eigene Tore. Die Bilanz von Markus Weinzierl liest sich wie ein Horrorfilm, in eben jenem fühlte er sich mittlerweile vermutlich gefangen. Eine völlig verunsicherte Mannschaft, mangelnde Fitness und das traurige Bild des Tabellenkellers. Dass die Hinrunde beim VfB traditionell vergeigt wird, ist nicht neu – wie heftig die Resignation in weiten Teilen schon ist, ist bezeichnend. Wer noch nicht resigniert hat, ist abgestumpft und bemüht sich, dem allen nicht zu viel Bedeutung beizumessen, es würde einen vielleicht irgendwann kaputt machen. Und dann gibt es da noch die unerschrockenenen Optimisten, die immer an das Beste glauben möchten. Irgendwann würde der Knoten doch bestimmt platzen. Oder?

Besser nichts erwarten, dann kann man auch nicht enttäuscht werden. Ich freute mich allenfalls auf einen netten Tag in der wunderschönen Stadt Nürnberg, und in Bezug auf das Spiel konnte ich nur positiv überrascht werden. Kurz nach 6 Uhr machten wir uns zu zweit auf den Weg nach Franken, lecker Frühstücken stand auf dem Plan, kurzfristig am Vorabend entschieden. Es war die richtige Wahl, hörte ich vorm Stadion von mit dem Zug gefahrenen Freunden, wie vollgestopft diese auf der Strecke Stuttgart-Nürnberg waren. Irgendwo mussten die angekündigten 10.000 VfB-Fans ja hin, nicht wahr? Für mich war es das fünfte Mal im Max-Morlock-Stadion, aber erst das zweite, dass ich mir der massiven Reiselust des Anhangs bewusst geworden war. Ganz egal, was der VfB heute und in Zukunft in diesem Stadion erleben wird. Der magische Tag vom 29. April 2017 bleibt unvergessen.

Fünf Mal Franken

Der erste Teil des Tages lief genau so, wie ich es erwartet hatte: das Frühstück am Hauptmarkt war toll, das Sightseeing und Bummeln ebenfalls, die Anfahrt und das Parken am Stadion unproblematisch. Was der VfB aus dieser vermeintlich letzten Chance aufs “Kurve kriegen” machen würde, blieb abzuwarten. Noch ist die Saison lang und es gibt noch viele Punkte zu vergeben, doch wissen wir alle, dass man das Ruder vielleicht nicht mehr hätte herumreißen können. Soviele “hätte”, “könnte” und “wäre”, nichts von alledem konnte ich beeinflussen, als wir Richtung Stadion liefen und einige bekannte Gesichter wiedertrafen. Eine gewisse Anspannung lag in der Luft, dieses “Heute gilts!” konnte man überall spüren, genauso wie die Sorge, dass es genau deswegen nicht reichen wird.

Beinahe zwei Stunden bis zum Anpfiff waren noch Zeit, als ich die Eingangskontrolle passierte und mit einem “Drei im Weckla” einen ersten Blick ins Stadion riskierte und mir meinen Platz gesucht hatte, den ich dann bis lange nach Abpfiff nicht mehr verlassen hatte. Ein guter Blick auf den Gästebereich und aufs Spielfeld und zum ersten Mal war ich ohne “die Große” in Nürnberg. Meine Spiegelreflexkamera ließ ich daheim, zu große Angst hatte ich davor, wütende Bierduschen würden dem Gerät zu sehr zusetzen. Ob und wann die Stimmung kippen wird, ist nicht einfach zu beurteilen, die Sorge um meine Kamera sollte aber besser keine Rolle dabei spielen. Genau hier war sie mir ja bereits vor vier Jahren schon einmal aus der Hand gefallen.

Sieben bis zehn Grad hörten sich in der Wetter-App wesentlich besser an, als ich der Jahreszeit zugetraut hätte. Auf die komplette Vollmontur mit warmen Stiefeln, Thermostrumpfhose und Softshelljacke hatte ich verzichtet. Zumindest die Stiefel, die wären gut gewesen. Noch vor dem Anpfiff kroch die Kälte durch die Betonstufen nach oben, das würde noch lustig werden, dachte ich mir, als ich zusah, wie der Block sich füllte und meine Hoffnung immer größer wurde, es würde nicht gerade ein 1,85 Meter großer Kerl vor mir stehen bleiben. Schon jetzt dachte ich darüber nach, wie es werden könnte, wenn der VfB wieder nicht gewinnt. So weit entfernt war für mich der Gedanke, der VfB würde mal in Führung gehen und ein Spiel gewinnen.

Not gegen Elend

Viele Optionen hatte Markus Weinzierl nicht, als er die Startaufstellung vorbereitet hatte. Viele verletzte, ein immernoch gesperrter Emiliano Insua und einige Spieler, die erst jetzt so langsam wieder einsatzfähig sind. Ihm blieb keine Wahl, nach seinem auskurierten Muskelfaserriss musste er den aus Freiburg gekommenen Marc-Oliver Kempf aufs Feld schicken. Und wenn Markus Weinzierl genug Eier hat, dürfte Holger Badstuber fortan nicht mehr als eine Alternative zur Absicherung sein. Vor den Augen der mindestens 10.000 mitgereisten Fans, die “Dunkelziffer” lag vermutlich noch einmal höher, konnte es losgehen. Es war zunächst sehr still im Blick, eine Gedenkminute für den in dieser Woche verstorbenen Ultra Ryder. Ich kannte ihn nicht persönlich, hoffe aber, er möge auf der anderen Seite seinen Frieden.

Auf der anderen Seite ließ sich eine Choreo der Nürnberger beobachten, die ihr komplettes Fahnen- und Doppelhalter-Arsenal ausgepackt hatten, nett anzusehen von der anderen Seite, ohne Frage. Erst als der Ball schon rollte, stieg auch der Gästebereich, der sich über die komplette Südkurve des Max-Morlock-Stadions erstreckte, in den Support mit ein. Keine einfache Zeit für uns Fans, aber nicht nur die Erlebnisse vom letzten Heimspiel gegen Frankfurt zeigte den enormen Zusammenhalt der Cannstatter Kurve, alleine die Tatsache, dass sich erneut 10.000 auf den Weg gemacht hatten, zeugt von Leidenschaft. Auch dann, wenn die Mannschaft diese vielleicht gar nicht verdient hat.

Nach dieser Partie würde man davon berichten, dass der Auftritt schon um einiges besser war als das, was man zuletzt mit null zu elf Toren hinnehmen musste, dass erste Ansätze des Offensivplans erkennbar waren und es eine deutliche Steigerung zu den letzten Spielen gab. So fühlte es sich allerdings noch nicht an, als man in der ersten Halbzeit im Gästeblock stand und dabei zusah, wie sich der VfB zwar mühte, aber den Ball nicht im Tor unterbrachte. Eine einzige Unkonzentriertheit würde ausreichen, der Gegner in Führung gehen und die Stimmung kippen lassen. Wir bekamen genau das zu sehen, was man erwarten konnte. Not gegen Elend.

Den Bock umgestoßen

Mit jeder vergegeben Chance, mit jedem Ballverlust, die Unruhe im Block wurde in der zweiten Halbzeit spürbar. Was, wenn Nürnberg jetzt trifft? Was, wenn der VfB irgendwie… nein. Der VfB schießt doch keine Tore. Drei Spiele ohne eigenen Treffer haben Zweifel aufkommen lassen, ob Mario Gomez nicht doch einmal eine Pause braucht. Aber wer soll denn stattdessen treffen? Es ist schlussendlich die Ironie des Schicksals, dass es einen braucht, der bisher in der ersten Liga noch gar nicht getroffen hat. 68 Minuten des Spiels waren vorbei. Dennis Aogo trat zu einem weiteren Eckball an, mit meiner kleinen Kamera hielt ich drauf und hoffte, den einen Moment erfassen zu können, in dem der Ball im Tor einschlägt. Kein leichtes Unterfangen, wenn vor einem fast ohne Unterlass eine große Schwenkfahne die Sicht versperrt.

Ein langer Schlag, ein kurzes Klären, ein Nachschuss und ein Drücken des Auslösers. Bis ich das nächste Motiv einigermaßen scharfgestellt bekommen hatte, dauerte es ein paar Sekunden. Timo Baumgartl. Das sind die Geschichten, die der Fußball schreibt. Sein erster Treffer in der Bundesliga, nachdem er bereits in der zweiten Liga ein Tor in Aue erzielt hatte. Manchmal braucht es einen, den man so nicht erwartet hatte, um den Bock endlich umzustoßen. Ich hatte nicht einmal genau beobachten können, wie er geschossen hatte, seine Emotionen waren aber offensichtlich, als er mit geballten Fäusten an der Bande stand und 10.000 jubelnden Fans ins Gesicht schrie.

So groß die Freude über dieses eher unerwartete Tor war, so groß war auch die Angst, die Absicherung nach hinten zu vernachlässigen und den Ausgleich zu kassieren. Da half nur eins: nur noch lauter singen und schreien. Ein weiteres Mal Höchstleistungen der Kurve, anpeitschen, nach vorne schreien und den Oberrang zum Wackeln bringen. Wir brauchten das zweite Tor, alles andere wäre zu gefährlich. Dreizehn Minuten lang wurde die Südkurve immer lauter und lauter, so sehr sehnte man den zweiten Saisonsieg herbei. Zwischenzeitlich wusste man, dass Düsseldorf überraschend hoch gegen die Hertha gewinnt, auch ein Sieg würde uns also nicht vom letzten Tabellenplatz hieven können, aber das war fürs erste zweitrangig. Alles, was wir tun konnten, war dabei zu helfen, diesen verdammten Ball ins Tor zu schreien. Irgendwie.

Nicht mehr als ein kleiner Hoffnungsschimmer

Einige Tage zuvor hatte der VfB kundgegeben, man hätte Halil Altintop bis Weihnachten in den Trainerstab aufgenommen, für spezielle Angelegenheiten, ohne diese genauer zu benennen. Viele Mutmaßungen später sickerte durch, es handle sich dabei um Unterstützung für Torschüsse und Standards. Neun Eckbälle hatte der VfB in diesem Spiel zugesprochen bekommen, eine davon landete im Tor. Acht Minuten vor Schluss gab es erneut eine Ecke, alles vor den Augen der VfB-Fans. Wieder war es Dennis Aogo, wieder klärte Christian Mathenia die Situation zunächst. Einer der Nürnberger kam an den Ball, glaubte in Sicher, sah aber Erik Thommy hinter sich nicht. Der Rest endete in einer einzigen Bierdusche.

Was. Für. Eine. Fackel. Auch am Tag danach habe ich mir das Tor einige Male noch anschauen müssen. Entstanden aus einer bereits vermeintlich geklärten Situation, stramm abgezogen direkt rechts oben in den Winkel hinein. Das war die Entscheidung, die wir herbeigesehnt hatten. Felix war weit von mir entfernt in einem anderen Block und hielt in dem Moment mit der Kamera drauf, als Erik Thommy zum Gästebereich rannte und sich von seinen Kollegen beinahe erdrücken ließ. Es wurde ein unscharfes Bild, aber es zeigt so viele Emotionen, wie viel Last da von den Schultern hinab gefallen ist. Die Moral der Gastgeber war gebrochen, viel passierte nicht mehr und wir feierten die Mannschaft für einen so immens wichtigen Sieg.

Wichtig. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Ich will nicht sagen, wir sind aus dem Schneider. Ich will nicht sagen, dass dies ein Befreiungsschlag war. Ich will nicht sagen, dass nun sicherlich alles besser wird. Aber: es hat sich gut angefühlt. Und zum ersten Mal seit Wochen fühlt es sich zumindest ein kleines bisschen so an, als sei noch nicht alles vorbei. Es liegt an der Mannschaft und am Trainerteam, die Länderspielpause zu nutzen. Die drei Punkte waren bitter notwendig, sonst hätte es schon im November ganz finster ausgesehen. Aber der Weg ist noch lang. Sehr lang.

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