Eigentlich hätte ich innerlich kochen müssen. Eigentlich hätte ich mich auf der gesamten Zugfahrt über die Unfähigkeit dieser Mannschaft ärgern müssen. Eigentlich hätte ich schon jetzt den Verlauf der kompletten Saison zur Gänze abschreiben sollen. Stattdessen saß ich entspannt auf meinem Sitzplatz im Regionalzug, schaute den an meinem Auge vorbeirauschenden Einfamilienhäusern und Wäldern nach und ließ einen Gedanken zu, von dessen Exitenz ich noch vor einigen Monaten nichts wissen wollte: Das Gefühl, dass der Tag doch im Grunde gar nicht so schlecht war. Eigentlich. Und das trotz der Niederlage.
Es heißt, dass es weit weniger weh tut, wenn man die Dinge kommen sieht. Vielleicht ist da ja sogar etwas wahres dran. Es bedarf nicht viel Fantasie, nach sechs sieglosen Auswärtsspielen in Mainz nicht unbedingt zu erwarten, warum es nun ausgerechnet da besser sein sollte. Die meisten Ausflüge an den Rhein, die mir im Gedächtnis geblieben sind, sind geprägt von Pleiten, Pech und Pannen. Nicht eine dieser Partien hätte der VfB verlieren müssen, denn nie war er wirklich so unterlegen, dass es die Heimfahrt mit leeren Händen rechtfertigen würde.
Hier verlor man entweder unglücklich, dämlich, motivationslos oder mit einer Mischung aus allen dreien. Warum es ausgerechnet heute anders sein sollte, fragte ich mich noch, als ich antriebslos in den Morgenstunden das Haus verlassen hatte. Die Lust auf die neue Saison hat sich noch nicht eingespielt, im Gegenteil. Wäre die Sommerpause nur noch einmal drei Monate länger gewesen, es wäre mir gar sehr recht gewesen. Unfassbar? Mag sein. Aber wer sich seit Jahren dazu geradezu verpflichtet fühlt, aus anderen Gründen als den “Spaß” auswärts zu fahren, sollte eines Tages seine eigenen Motive überdenken.
Mit Pushkin und Piccolo
Kaum saßen wir im Regionalexpress, frönten wir mit unseren Freunden Gerd und Ingrid den durchaus schönen Seiten einer Auswärtsfahrt mit dem Zug, wenn keiner selbst fahren muss. Pushkin Black für die Jungs, Piccolo für die Mädels. Auf die findige Idee, die unkomplizierteste Verbindung über Karlsruhe zu nehmen, kamen allerdings auch andere VfB-Fans. Dass man sich für diese nahezu fremdschämen musste, steht außer Frage. Wer der Meinung ist, mit VfB-Trikot und Schal angeschickert am Bahnhof einzulaufen und voller Inbrunst ein herzhaftes “Kallsruh, Kallsruh, …” zu schmettern, darf sich nicht wundern, wenn etwas passiert wäre. Es blieb ruhig – keine Selbstverständlichkeit auf feindlichem Gebiet.
In Mainz angekommen mit einem angenehmen Polster auf der Uhr, verschlug es uns zunächst Richtung Altstadt zum Dom. Am Nachbartisch wurde im Brustringtrikot das Bier geordert, bei uns gab es ganz gesittet Milchkaffee, Latte Macchiato, Cappuchino und Shoc Moc. Die ganz typische Reisetruppe im Namen des Brustrings sind wir damit vermutlich nicht, aber wir genießen es. Und wenn die vielen Wespen nicht gewesen wären, man hätte in der Sonne zu gerne ein Nickerchen gemacht und wäre danach seelenentspannt wieder heimgefahren. Zu dumm nur, dass noch ein Fußballspiel anstand.
Kaum hatte uns der Shuttle-Bus am anderen Ende des Kartoffelackers ausgespuckt, kamen all die üblen Erinnerungen hoch. Zu den schlimmsten gehören zweifelsohne die vergangenen beiden Spiele, als man kurz vor Weihnachten im Pokal und wenige Wochen später im Ligarückspiel verloren hatte und den Begriff “Arbeitsverweigerung” fortan neu definieren musste. Ich hatte gar keine Lust, hier zu sein. Wie ich schon keinen Drang verspürte, mich ganz alleine auf den Weg nach Rostock zu machen. Und trotzdem war ich hier. Warum eigentlich?
Auf Gedeih und Verderb?
Seien es die Fotos, die Aussicht auf eine amüsante Reise mit Freunden oder die naive Hoffnung, die schlimmsten Befürchtungen würden eines Tages vielleicht ausnahmsweise doch nicht eintreffen und die Mannschaft würde beweisen, dass sie es doch kann. In Rostock zu verlieren war peinlich, aber womöglich irgendwo erwartbar. So ist es auch in Mainz. Ich kenne Mainz gar nicht anders als ätzend und frustrierend, da wäre ein Auswärtssieg in meinem siebten Anlauf allenfalls ein Tropfen auf den heißen Stein. Und wie ich es manchmal wirklich hasse, Recht zu behalten.
Auf die Frage “Wo wart ihr denn in Rostock?” musste ich auf meinem Weg zu meinem gefühlten Stammplatz des öfteren beantworten. Bei “Keine Lust” nickten die meisten andächtig bis schockiert, nur die wenigsten nickten bei der Rückfrage, ob sie denn selbst dort gewesen seien. Womöglich bin ich nun an dem Punkt angekommen, so einfach nicht mehr weitermachen zu wollen. Auf Gedeih und Verderb jedes Auswärtsspiel besuchen, obwohl so viele Gründe dagegen sprechen? Will ich das für den Rest meines Lebens machen?
Und so stand ich also wieder hier. An der gleichen Stelle, an der ich schon sechs Mal zuvor stand. Anders würde das Spiel vermutlich nicht laufen. Und erneut sollte ich Recht behalten, dabei wäre es doch zu schön, mich Lügen zu strafen. Aus dem kompletten Nichts kommt mein Pessimismus schließlich auch nicht. Nach Jahren des schleichenden Niedergangs und dem darauffolgenden Abstieg ging mir der Glaube verloren, dass es sich lohnt, positiv zu denken. Und es gibt Tage, da denke ich mir: “Warum sollte ich positiv denken? Der VfB verliert doch sowieso und verdaddelt die komplette Saison. Ist doch eh schon klar.”. Nicht, das ich das so wollen würde. Eher, weil ich vielleicht nicht anders kann.
Es gibt immer ein erstes Mal – aber nicht heute
Drei Tage danach habe ich nun wirklich keine Motivation mehr dafür, fünf Seiten oder mehr zu einem Spiel zu schreiben, das ich schnellstmöglich zu den Akten legen möchte. Allenfalls die Choreos im Stadion werden haften bleiben, es kommt nicht sehr oft vor, dass auf beiden Seiten etwas passiert. Gelbe und schwarzen Fahnen in den Stadtfarben im Gästeblock, eine Blockfahnenchoreo in der Heimkurve, die 15 Jahre Aufstieg feierte. Als alle Segeltücher eingerollt, alle Fahnen abgelegt und alle Papptafeln zerknüllt und nach vorne geworfen worfen, stand ich genauso ratlos da wie sonst auch immer. Was mache ich denn nun eigentlich hier?
Es fühlte sich an wie das geduldige Warten auf ein Ereignis, das früher oder später eintreffen würde. Daran, dass der VfB das Spiel doch auch mal gewinnen könnte, zum ersten Mal seit über 13 einhalb Jahren, konnte ich nicht denken. Die letzte Saison hatte dabei doch aber ganz anderes gezeigt. Der erste Heimsieg gegen Köln seit langer Zeit. Der erste Auswärtssieg in Leverkusen seit langer Zeit. Und das Spektakel von München, das ich vermutlich wirklich meinen Lebtag nie vergessen werde. Woher kommt also dieser Frust, diese Lustlosigkeit, diese Hoffnungslosigkeit? Wer eine Antwort darauf hat, darf sich gerne melden.
Dass der VfB wie so oft verlieren würde, war mir klar. Mir war nur nicht klar, wie es passieren würde. In den letzten beiden Tagen wurde viel, lang und strittig über den Einsatz des Videobeweises diskutiert, nachdem dieser einige Male dennoch zur Fehlentscheidung führte. Wie wäre es also damit? Schiedsrichter Daniel Siebert muss das anscheinend gehört haben und bemühte in der 60. Minute den Videobeweis. “Das war mal wieder sowas von klar” hatte ich bereits auf den Lippen, die Entscheidung fiel aber entgegen meiner Befürchtung aus. Kein Handelfmeter für Mainz. Die Freude währte aber nicht lang, denn sehr viel schien dem VfB nicht einzufallen, wie er die Partie denn gewinnen wolle.
Überraschung, Überraschung…
Dass ausgerechnet Holger Badstuber, der vor der Saison seinen Vertrag überraschend verlängerte und beim Pokal-Aus in Rostock die beiden entscheidenden Fehler machte, erneut patzte, ließ mich fast schon lachen. Im Laufduell den Kürzeren gezogen und wenige Sekunden später wusste ich, warum viele um mich herum gut acht Minuten zuvor “Oh Scheiße…” stöhnten, als Anthony Ujah eingewechselt wurde. Wäre es nicht so dämlich gewesen, man hätte beinahe lachen können. Dass ein solches Tor selbst großen Mannschaften passieren kann, geschenkt. Aber dass in solchen Situationen dem VfB viel zu oft einfach nichts mehr einfällt, ist seit Jahren beängstigend.
Eine Viertelstunde später war es dann amtlich. Der VfB verliert in Mainz. Mal wieder. Der VfB findet keine Mittel, gegen eine höchstens ebenbürtige Mannschaft eine entsprechende Gegenwehr an den Tag zu legen. Mal wieder. Der VfB schafft es nicht, zum ersten Mal seit 2005 beim Klatschpappen-Publikum als Sieger vom Platz zu gehen. Mal wieder. Und ich stand nur da, verzog keine Mine und hatte nichts als Gleichgültigkeit im Kopf. Eine Mischung aus “War ja klar!” und “Was könnt ihr eigentlich?”, bis ich mich erneut an dem Gedanken festhalten musste, dass es letztlich doch nur Fußball ist.
Noch ein paar wenige Stunden zuvor, als wir unterwegs waren Richtung Dom, knickte ich mit dem linken Fuß recht böse auf einer unebenen Stelle im Asphalt um, überdehnte mein Sprunggelenk unsanft aufs Äußerste und war dennoch in der Lage, schmerzfrei weiterzulaufen. Hätte ich mir hier etwas angerissen, durchgerissen, verstaucht oder sonstwas, das wäre die wahre Tragödie gewesen. Eine weitere Auswärtsniederlage in Mainz ist es allerdings nicht.
Auf der Suche nach dem Schalter
Still verblieb ich noch ein paar Minuten im Gästeblock und befürchtete, der Moment, in dem die Wut schlussendlich doch hochkocht, würde mir noch bevorstehen. Um mich herum leerte es sich rasch, und auch wir mussten zügig zu den Shuttle-Bussen, die uns schnell zum Bahnhof brachten. Keine Pipi-Pause, keine Zeit für den Kauf eines Getränks, nur schnell weg aus dieser Stadt. Müde ließ ich mich auf den Sitz plumpsen, lachte und schmerzte schon mit meiner besseren Hälfte und meinen Freunden und erwischte mich dabei, wie der Tag dann doch gar nicht so blöd war, dass diese Niederlage das kaputt machen könnte. Noch immer wartete ich auf den Moment der hochkochenden Wut. Sie blieb stumm. Auch heute noch.
Kraft und Muße für die Aufbereitung der Bilder hatte ich keine mehr, dabei war es “nur” gegen zehn Uhr abends, als wir im Heimathafen eingelaufen waren. Pappsatt von einer nächtlichen Dönerbox am Wilhelmsplatz, zufrieden ob des schönen Tages, den wir miteinander hatten, kein Platz für Frust und Enttäuschung. So sollte es ja im Grunde immer sein. Eigentlich. Die Realität sieht oft anders aus. Noch viele Tage später quält mich der Gedanke an eine erlebte Niederlage, beschäftigt mich, frustriert mich, lähmt mich. Dass es auch anders gehen kann, hat dieser Tag gezeigt. Ein Modell für die Zukunft?
Der VfB hat verloren. Aber trotzdem hätte es schlimmer kommen können. Am Montagmorgen den Orthopäden aufzusuchen und nur unter Schmerzen laufen zu können, das wäre beinahe das eigentliche Problem gewesen. Für mich war das die vermutlich letzte Ausfahrt nach Mainz. Keine Lust mehr auf das Klatschpappen-Publikum, die nervige Tormelodie, den hässlichen Kartoffelacker und vor allem nicht auf das Gefühl, hier einfach nie ein gutes Spiel sehen zu können. Anderenfalls: das hatte ich in Wolfsburg auch schon einmal gesagt.
33 Jahre, gebürtig aus Leipzig, seit 2010 wohnhaft in Stuttgart – Bad Cannstatt. Dauerkartenbesitzerin, Mitglied, ehemalige (Fast-)Allesfahrerin und Fotografin für vfb-bilder.de. Aus Liebe zum VfB Stuttgart berichte ich hier von meinen Erlebnissen – im Stadion und Abseits davon.
Mehr über mich
Neueste Kommentare