Das war wieder einmal dieser Tage. Ein Tag, an dem man sich bewusst wird, dass man nur eine winzig kleine Entscheidung davon entfernt war, auf der anderen Seite des Stadions zu stehen. So viel Argwohn und Abneigung dem “Verein” aus meiner Heimatstadt zurecht zuteil wird, so wird diese Partie niemals für mich ein gewöhnliches Spiel wie jedes andere sein. Doch wo sich normalerweise Aufregung und Anspannung mischt und ein ungutes Bauchgefühl hervorrufen, so hat die Tristesse der vergangenen Monate weiterhin Bestand. Nie war es schwerer, VfB-Fan zu sein. Und gleichzeitig war es nie leichter, sich auf das zu besinnen, was wirklich wichtig ist.

Einiges hat sich getan, seit ich die letzten Zeilen hier geschrieben habe. Der VfB verlor sang- und klanglos in Düsseldorf, präsentierte sich ein weiteres Mal wie ein Absteiger und erneut beobachtete ich die Szenerie nicht etwa vor Ort, sondern vor dem Fernseher, wie bereits seit November. Wie soll es weitergehen? Ein Schuldiger musste her, nur war es zu aller Überraschung nicht ein weiteres Mal der Trainer, der zum Bauernopfer gemacht wurde. Michael Reschke, selbsternannter Perlentaucher und wiederholter Wahrheitsbeuger, musste gehen.

Wolfgang Dietrich hatte seinen Daumen gesenkt, während er sich selbst mit allerletzter Kraft an seinem Königsstuhl festkrallt. Thomas Hitzlsperger wurde befördert zu Reschkes Nachfolger, ob aus purer Überzeugung oder doch vielmehr im Bestreben, ein paar Sympathien im Club zu bewahren, das soll jeder für sich selbst entscheiden. Ob ein neuer Sportdirektor alleine den VfB aus der Versenkung hieven kann, in die ihn sein Vorgänger erst gebracht hat, ist dennoch fraglich. Millionen um Millionen wurden verbrannt, vom üppigen Finanzpolster der Ausgliederung ist nichts mehr übrig und die Lage ist bedrohlicher, als sie beim direkten Abstieg vor drei Jahren war. Es gibt nicht viel, was in diesen Zeiten Hoffnung für den Verein macht.

Kick it like 2016

Man fühlt sich zurückversetzt ins Jahr 2016, als der VfB dem Abstieg entgegen strauchelte, ohne etwas dagegen tun zu können. Machtlos und ohnmächtig schauten wir einst dabei zu, bis in Wolfsburg schließlich der letzte Vorhang gefallen war. Ich erinnere mich noch gut an dieses Gefühl der Enttäuschung, der Verzweiflung, der Resignation, bittere Tränen weinten wir, obwohl wir genau wussten, was uns erwarten wird, als wir uns auf den Weg in die Autostadt gemacht hatten. Einst war der VfB im Chaos versunken. Und doch hatte er damals zur gleichen Zeit der Saison 13 Punkte mehr auf dem Konto. Ein ernüchterndes Szenario, nicht wahr?

Die Angst vor dem Abstieg hatte mich damals unruhig gemacht, ich fürchtete, meine Freunde und Bekannten würden dem Stadion fernbleiben, der VfB spielt schlecht und bleibt für Jahre zweitklassig. Eine Schreckensvorstellung, die sich in einem Jahr zweite Liga, das sogar Spaß gemacht hatte, nicht bewahrheitet hatte. Mit wehenden Fahnen stiegen wir wieder auf, in der Hoffnung, dass uns dieser bittere Fauxpas eine Lehre war und wir frohen Mutes in die Zukunft schauen können. Heute sind wir schlauer. Denn nichts wurde besser.

Die für mich wohl allerwichtigste Erkenntnis musste also lauten: finde einen Weg, dass dich das, was beim VfB passiert, nicht mehr beeinflusst. Keine verhagelte Laune am Wochenende mehr. Keine krampfhafte Urlaubsplanung in den Sommer- und Länderspielpausen mehr. Es gibt so viel Schönes da draußen, will ich mir wirklich Zeit meines Lebens von einem Fußballverein diktieren lassen, wie ich mich fühlen soll? Diese Gedanken begleiteten mich, als ich an diesem überraschend milden Samstagnachmittag meine Sachen packte, meine Sonnenbrille aufsetzte und mich auf den Weg ins Stadion machte. Mehr Lust als beim letzten Mal hatte ich trotzdem nicht.

Fehler in Endlosschleife

Ich schaute in die Augen meiner Freunde und Weggefährten, in die Augen jener, die seit vielen Jahren im Block 33 neben mir stehen. Sie alle haben die letzten Wochen auf unterschiedliche Weise erlebt, manche schüttelten sogleich den Kopf und schleppten sich dennoch lustlos ins Stadion, andere waren überzeugt davon, dass gerade heute der Bock umgestoßen wird. Warum das ausgerechnet gegen die roten Bullen klappen soll, wurde mir allerdings nicht beantwortet. Uns Gegenüber erweckte ein nur spärlich besiedelter Gästeblock nicht mehr als ein müdes Lächeln. Um mich herum fragte man, ob dies wohl ein Minusrekord im Neckarstadion sei. Wohl kaum, Wolfsburg war Anfang 2010 mit noch weniger Leuten angereist.

Durch nichts wollte ich mich heute aus der Ruhe bringen lassen. Verlieren würde der VfB die Partie vermutlich ohnehin. Und wer sich fragt, warum ich nicht einfach optimistischer sein kann, hat womöglich die sportliche Entwicklung des VfB in den letzten Jahren nicht mitbekommen. Selbsterfüllende Prophezeiung? Meinetwegen. Lieber nichts erwarten und dafür positiv überrascht werden als mit hohen Erwartungen tief zu fallen. Erwartungen gab es vor der Partie keine. Schon gar nicht bei mir. Die Emotionslosigkeit in Sachen Fußball wurde zum Alltag und ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, es würde mir damit nicht besser gehen.

Ob ein Christian Gentner nun von Beginn an spielt oder auf der Bank sitzt, mit welchem System der Trainer seine Haut zu retten versucht, mit wieviel Offensivkraft man in das Spiel geht, es war für mich fast schon belanglos. Denn völlig egal, was passiert, ob der VfB gewinnt oder verliert, ob er absteigt oder die Klasse hält – die gleichen Fehler werden ohnehin immer wiederholt, und zwar mindestens so lange, wie der Sonnenkönig am längeren Hebel sitzt. Woran liegt es aber, dass man bereits vor Wolfgang Dietrich die gleichen Fehler erneut wiederholt hat? Wurde das nun zu unserer Club-DNA? Oder steht der VfB einfach für die Philosophie, aus guten Voraussetzungen das denkbar Schlechteste herauszuholen?

Wenig überraschend

Der Ball rollte und der VfB lag bereits nach sechs Minuten zurück. Und so schaute ich aufs Spielfeld, mit einem Gesichtsausdruck der sagte “Ich wünschte, ich wäre überrascht”, aber ich war es nicht. Alles, was beim VfB schief läuft, überrascht mich nicht. Schon hundert Mal haben wir gehört, dass sie es besser machen wollten. Schon hundert Mal haben wir die gleichen Ausreden gehört, warum es wieder nicht geklappt hat, zu punkten. Verschiedenste Spieler, Trainer, Manager und Präsidenten, das Ergebnis ist das gleiche. Immer weiter nach unten. Ich habe aufgegeben, zu fragen, ob es zu viel verlangt sei, über ein paar wenige Jahre die größten Abstiegssorgen los zu sein und einfach mal im Mittelfeld herumzudümpeln.

Während viele neue Hoffnung schöpften, als uns knappe zehn Minuten nach dem Führungstor per Videobeweis ein Elfmeter zugesprochen wurde, vermochte ich kaum eine Gefühlsregung zu zeigen. Steven Zuber machte das ganz ordentlich, hart und platziert zum Ausgleich, ob uns das zum Puntgewinn reicht, blieb abzuwarten. Wer gegen Freiburg den Fehler machte, sich zu früh zu freuen, wurde in der Nachspielzeit schließlich auch bestraft. Der Kurve konnte man keinerlei Vorwurf machen. Unzählige Fahnen und Doppelhalter, laute Gesänge und Unterstützung für die Mannschaft, die sich wesentlich mehr Mühe gab als noch in der Vorwoche in Düsseldorf. Aber es reichte dennoch nicht.

Ein zu Unrecht gegebener Freistoß, der direkt im Tor einschlug und schließlich ein schneller Angriff versetzte uns die nächste Niederlage. Und dennoch kam die Unterstützung von den Rängen, zumindest bis zur 80. Minute. Fortan richtete sich alle Wut gegen Wolfgang Dietrich. Mancher mag sich vielleicht fragen, warum, er stünde ja immerhin nicht auf dem Feld. Aber wer zu solchen Entscheidungen in der Lage ist, bei jedem Anflug von Kritik unsachlich und nervös wird und der sich trotz allem keiner Schuld bewusst ist, hat an der obersten Stelle des Vereins rein gar nichts verloren.

“Stuttgart kämpfen – Dietrich raus!”

Die Anzahl der “Dietrich raus!”-Rufe habe ich nicht mitgezählt, ganze Fangesänge wurden umgedichtet und eine Vielzahl von Bannern und Spruchbändern waren in der Kurve zu lesen. Bereits vor Jahren, als ihn lediglich 57,2 Prozent von 3.000 anwesenden Mitgliedern zum Präsidenten gewählt haben, hatte die Fanszene davor gewarnt. Wir haben auch davor gewarnt, was passieren würde, wenn er 2017 mit der Ausgliederung durchkommt. Erfolg wurde uns versprochen, das verantwortungsvolle Umgehen mit der üppigen Finanzspritze von Daimler und das ausschließliche Arbeiten mit regionalen Partnern, alles im Sinne des VfB. Nichts davon ist eingetreten. Über 40 Millionen wurden verbrannt und im Neckarstadion spielt der schlechteste VfB aller Zeiten. Ein Kollaps mit Ansage.

Ohne Pfiffe schickte man die Mannschaft zurück in die Kabine, mehr als das eine oder andere vereinzelte Klatschen für die zumindest versuchte Defensivleistung und das engagiertere Zweikampfverhalten war jedoch nicht drin. Es gab Zeiten, da habe ich mit dem Abpfiff in wütende, beinahe schon schäumende Gesichter gesehen, Verzweiflung, Frustration, man sträubte sich mit aller Macht gegen die Situation, ohne sie je selbst ändern zu können. Und heute? Resignation. Es ist fast so, als hätte man sich ans Verlieren gewöhnt, es überrascht einen schon gar nicht mehr. Für viele die wohl bitterste Erkenntnis, die es geben kann.

Es hat Jahre gebraucht, um zu erkennen, dass ein Wochenende trotz VfB-Niederlage trotzdem schön sein kann. Am Freitag kam meine zweite Nichte zur Welt (oder vielmehr Felix’ Nichte) und ich durfte sie am heutigen Sonntag zum ersten Mal auf dem Arm halten. Klein und zerbrechlich, sie weiß noch nicht, dass sie, sobald sie daheim sind, einen VfB-Strampler von uns bekommen wird. Trotz denkbar finsterer Zeiten gibt man die Leidenschaft, die einst so brodelnd und nun sie bitter ist, an die nächste Generation weiter. Das Spiel werde ich schon bald verdrängt haben. Nicht jedoch die Tatsache, dass ich mir von diesem Verein nicht mehr meine Laune verderben lasse.

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