Keine andere Frage beschäftigt mich und viele andere am Tag danach so sehr wie diese: Warum erst jetzt? Diese Jungs können rennen, kämpfen, Fußball spielen. Und sie können gewinnen. Sie haben die Qualität, alles aus sich rauszuholen, für den anderen mitzurennen und all die Leidenschaft zu zeigen, die wir als Cannstatter Kurve vorleben und im gleichen Maß von unseren Spielern erwarten. Warum nur können sie es erst dann abrufen, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist? Warum nur war es nicht möglich, diese Leistung vorher zu zeigen, als es noch darum ging, das schlimmste abzuwenden? Warum nur musste es erst so weit kommen?
Wir müssten nicht da unten stehen, sondern hätten gestern einen ganz entspannten Nachmittag feiern können und die Saison wäre am kommenden Samstag für uns beendet gewesen. So ist es aber nicht. Und genau das macht mich wütend. Wiederholte Leistungsverweigerung, Trantütigkeit, Faulheit und mangelndes Engagement, die Saison des VfB war bislang geprägt von einem einzigen Weg des Misserfolgs. Vor drei Jahren erlebten wir den schlechtesten VfB der Vereinsgeschichte, nur um in dieser Saison noch einmal schlechter dazustehen. Mit 24 Punkten hat keiner verdient, die Liga zu halten, ganz egal, wie die letzten zwei oder vier Spiele laufen würden.
Es gab Momente, da dachte ich mir zuletzt, es wäre vielleicht einfacher, direkt abzusteigen, ohne die Aufmerksamkeit von Fußballdeutschland auf sich zu ziehen und eine Bühne für eine erneute Blamage zu bieten. Man stelle sich nur vor, eine ganze Saison lang die Lachnummer im ganzen Ländle zu sein, nur um dann die Lachnummer für die Bundesliga zu sein. In zehn Jahren Relegation hat sich erst zwei Mal der Zweitligist durchgesetzt, nach den Darbietungen der vergangenen Wochen aber kein unwahrscheinliches Szenario. Das kurze Strohfeuer gegen Gladbach erstickte wieder im harmlosen Auswärtsspiel in Berlin. Wohin sollte die Reise also gehen?
Bayern oder Bielefeld?
Noch war ich entspannt. Bereits zur Mittagszeit brach ich auf in Richtung Stadion, sah unzählige VfB-Fans auf dem Weg vom Cannstatter Bahnhof in Richtung Wasen abbiegen und fragte mich, wieviele es wohl nicht mehr ins Stadion schaffen würden. Auf mich wartete mein geliebter Twitter-Stammtisch #tpstgt, der sich traditionell zum letzten Heimspiel im SSC versammelt hatte.
Es war die eine Aussage unseres Vorschreiers in der Cannstatter Kurve, die bei mir nicht nur Gänsehaut verursacht hat, sondern auch nachhaltig hängen geblieben ist. Er sagte, dass sich jeder einzelne vor Augen halten solle, ob er nächste Saison gegen Bayern oder Bielefeld im Stadion stehen möchte. Dass die zweite Liga in all ihren Erlebnissen nicht halb so schlimm war, wie ich immer dachte, steht außer Frage. Ob sich eine solch wundersame Reise wiederholen und diese Euphorie wieder entstehen lässt, das steht doch tatsächlich zu bezweifeln.
Wenn es gut laufen würde, würde dies nicht das letzte Heimspiel der Saison 2018/2019 sein. Bei dem Gedanken daran konnte man wahnsinnig werden. Ein wohl vorletztes Mal reihte ich mich ein zur Eingangskontrolle, ein wohl letztes Mal durchschritt ich das Drehkreuz und ein wohl vorletztes Mal stellte ich mich an die Stelle, an der ich schon so viele Heimspiele erlebt, fotografiert, besungen und beschrien habe. Wolfsburg war zu Gast, einer der Anwärter auf die internationalen Plätze und aktuell noch trainiert von dem Mann, der es bei uns als Trainer so lange ausgehalten hat wie lange davor und bisher lange danach wie kein anderer. Wie bitter wäre es, wenn ausgerechnet Bruno Labbadia unsere Chancen auf die Relegation zunichte macht?
Warum nicht vorher so?
Ich lasse mir nicht mehr meine Laune vermiesen von diesem Verein. Und so stand ich, trotz der enormen Wichtigkeit dieses Spiels, ganz entspannt im Block, schaute umher, plauderte mit Leuten und genoss die Sonne, die sich immer wieder mal hatte blicken lassen an diesem durchaus wechselhaften Samstagnachmittag. Hinter mir wurde ein riesiges Transparent gehalten, während die Mannschaft zum Aufwärmen das Feld betrat, eine deutliche Botschaft, wie sie nicht hätte unmissverständlicher sein können: “Weder Kampf noch Einsatz – Nur Versager!”. Es ist die logische Fortsetzung des Transparents “Zeigt Kampf und Einsatz für unseren Farben!”, das über weite Teile der Saison die Mannschaft nicht die Bohne gejuckt hat. Aus diesem Grund darf man die Charakterfrage schon stellen. Und die Antwort darauf ist keine, die den Spielern gefallen dürfte.
Sobald der Ball rollte, war es alles andere als eine Augenweide. Aber – sie kämpften. Etwas, was wir in den letzten Wochen und Monaten viel zu selten gesehen haben, wenngleich sie immer wieder Kampfansagen machten, alles zu geben, auf dem Platz war davon kaum etwas zu sehen. Es ist eine gewagte, aber gleichermaßen nachvollziehbare These: Wo könnten wir nur stehen, wenn man diese Einstellung bereits im Februar an den Tag gelegt hätte, geschweige denn gleich zu Beginn der Saison? Ein, zwei, sorglose Saisons hintereinander, in der man nichts mit dem Abstieg zu tun hat, das wäre schön. Aber nicht einmal das scheint uns leidgeprüftem Publikum vergönnt zu sein.
Das erste, das für Aufsehen sorgte, war das schlechte Timing der mit einem Sonderzug angereisten Gäste – eine Pyroaktion drei Minuten nach Anpfiff. Respekt, das so hinzubekommen, wo man doch ohnehin schon nicht ernst genommen wird. Das zweite, das für Aufsehen sorgte, war aber ohne Zweifel das Schlimmere. Ein klares Foul an Nico Gonzalez, klar im Strafraum, klar nur auf den Mann. Keine Reaktion. Erst bei der nächsten Unterbrechung bekam Dr. Felix Brych den Hinweis aufs Ohr, in Köln ist man also aufgewacht, im Gegensatz zum übersehenen Handspiel des Herthaners. Das würde sicherlich Elfmeter geben für den VfB, mit dieser Hoffnung war ich nicht alleine. Und dennoch: keine Reaktion. Das Spiel lief weiter, ohne Elfmeter und ohne Auflösung. Zum zweiten Mal in einer Woche wurde uns eine klare Fehlentscheidung durch die Videoassistenten zuteil. Das ist doch der Wahnsinn.
Überraschend engagiert
Ohne Gegentor in die Pause gehen, das hätte etwas. Immerhin sind die Gäste in wesentlich besserer Verfassung als unser labiler Sauhaufen, um es mal höflich auszudrücken. Ein letzter Angriff auf das Tor der Wolfsburger, danach würde Dr. Felix Brych sicherlich zur Halbzeit pfeifen. Ich habe nicht gesehen, wie Gonzalo Castro mit den Armen wedelte, oder welcher Wolfsburger noch dran war, ich sah nur einen völlig verdutzten Torwart, ein wackelndes Netz und eine extatische Entladung der Cannstatter Kurve. Was zum Teufel..? Man mag über die Talente des Nico Gonzalez denken wie man will, aber wenn er mit dem Kopf nicht hingegangen wäre, wäre das Tor nicht so gefallen. Gut, er wurde unfreiwillig angeschossen und Castro wird als Torschütze aufgeführt, aber was solls.
Der Ball rollte wieder, die Kurve gab ihr bestes und die Mannschaft im Rahmen ihrer Möglichkeiten auch. Immer wieder entglitten meine Gedanken dem Spiel, in eine Fantasiewelt, in der der VfB dieses Engagement schon ab dem ersten Spiel auf dem Feld gezeigt hätte. Man würde einen ungefährdeten Platz 9 feiern, sich nach einem tollen Spiel bei den Fans für die tolle Saison bedanken und vor den Toren des Stadions würden zum ersten Mal seit einigen Jahren wieder die Würste und Steaks auf den Grill geschmissen werden. Es hätte alles nicht sein müssen, der Kummer, der Schmerz, und schließlich auch die Teilnahmslosigkeit und das Abgestumpft sein. Nicht, dass ich denke, dass der VfB die nächsten Jahre wieder für das obere Tabellendrittel irgendeine Rolle spielt, aber mal ungefährdet sein, das hätte durchaus etwas für sich.
Zehn Minuten nach Wiederanpfiff träumte ich also ein wenig vor mir her, wenngleich mein Körper arbeitete wie sonst auch. Eine aussichtsreiche Torchance reicht, damit ich durch den Sucher meiner Kamera schaue und versuche, den Moment festzuhalten. Ein gewonnener Zweikampf von Daniel Didavi, der rechte Fuß von Anatasios Donis, und schon riss es mich aus meinem Tagtraum. Ein unscharfes Foto später war es klar: das zweite Tor für den VfB, gar nicht schlecht für eine Mannschaft, der ich gegen Wolfsburg keinerlei Chancen zugetraut hatte. Danach passierte dann allerdings erstmal nicht viel, bis auf den aufopferungsvollen Support der Kurve, die keinen Zweifel aufkommen lassen wollte, dass man auch in die Relegation gehen würde.
Letzte Ausfahrt Relegation
Wenn es bei diesem Ergebnis bleiben würde, könnte uns auch egal sein, was bei Hannover und Nürnberg passierte. Machte uns das 1:0 von Hannover zunächst noch recht nervös, so hatten Gonzalo Castro und Anastasios Donis die richtige Antwort darauf. Nürnberg verlor erneut deutlich und musste zusammen mit Hannover den Gang ins Unterhaus antreten. Und der VfB? Der legte wenige Minuten vor Schluss noch das 3:0 durch Daniel Didavi nach, besiegte harmlose Wolfsburger verdient und hatte den Relegationsplatz sicher. Soviel zur Theorie. Und die Praxis? Die besagt, dass das lange befürchtete Alles-oder-Nichts-Duell auf Schalke nicht geben würde und uns noch zwei undankbare Extrarunden bescheren würde.
Entsprechend verhalten waren die Reaktionen demnach nach Abpfiff. Lange sammelten sich Spieler und Betreuer am Mittelkreis, ein paar Shake Hands mit dem alten Weggefährten Daniel Ginczek, dann machten sie sich auf den Weg. Eine ganze Kurve hob ihre Hände in die Höhe, mobilisierte noch einmal alle akustischen Kräfte, die wir noch hatten und schmetterten der Mannschaft ein “Auf gehts, Stuttgart, kämpfen und siegen!” entgegen. Es war das einzige, was die Spieler von uns noch zu hören bekamen, bevor sie kehrt machten und in die Kabine liefen. Kein Applaus. Keine Pfiffe. Nur eine letzte Kampfansage, alles zu geben. Das Spiel auf Schalke wird damit zur Nebensache. Aber das, was danach kommt, wird es in sich haben.
Am Donnerstag, den 23. Mai ist es soweit. Heimspiel. Flutlicht. Neckarstadion. Der VfB gegen… ja, gegen wen eigentlich? Einen Spieltag vor Schluss stand auch am Ende dieses Spieltags der Gegner noch nicht fest. Es stand lediglich fest, wer es nicht werden würde: der HSV. Der verlor am Ende noch deutlich in Paderborn, die ebenso wie Union Berlin ein potenzieller Relegationsgegner sind. Beides unberechenbare Mannschaften, die ein Team geformt haben und die dem VfB echte Probleme bereiten könnten. Lasse ich hierbei meine Erinnerungen an Paderborn ganz außen vor, wird mir auch so schon Angst und Bange. Der VfB muss da durch, ob er will oder nicht. Und genau das ist das Problem. Wenn er will, kann er es schaffen. Und wenn er nicht will, beendet er die Saison genau auf diese Art und Weise, die er nach dieser Spielzeit verdient hat. Mit dem Abstieg.
33 Jahre, gebürtig aus Leipzig, seit 2010 wohnhaft in Stuttgart – Bad Cannstatt. Dauerkartenbesitzerin, Mitglied, ehemalige (Fast-)Allesfahrerin und Fotografin für vfb-bilder.de. Aus Liebe zum VfB Stuttgart berichte ich hier von meinen Erlebnissen – im Stadion und Abseits davon.
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