Ich dachte eigentlich, ich hätte das alles hinter mir. Mit einer neu entdeckten Gelassenheit, um nicht zu sagen Teilnahmslosigkeit verfolgte ich die Spiele der letzten Wochen weitgehend mit einem Achselzucken und ertappte mich ein ums andere Mal bei der Aussage “Dann steigen sie eben ab, es ist verdient”. Und nun sitze ich dennoch hier, zwei Tage nach dem Hinspiel, zwei Tage vor dem Rückspiel und muss mir doch eingestehen, dass es mir doch nicht ganz so egal ist, wie ich gedacht hatte. Am Montag findet in der Alten Försterei der alles entscheidende Showdown statt. Union gegen VfB. Zweitligist gegen Erstligist. Gut gegen Böse, wenn man so will. Alle gegen uns. Natürlich tat uns der VfB nicht den Gefallen, zumindest im Hinspiel zu verdeutlichen, wer in der kommenden Saison in der ersten Liga spielen sollte. Im Gegenteil. Was bleibt, sind Zweifel. Und verdammt viele beschissene Gefühle.

So viele Meinungen, so viele Diskussionen, so viele Emotionen. Faktisch gesehen hat der VfB das Hinspiel nicht verloren und muss lediglich in Berlin gewinnen oder mindestens ein Remis mit drei Toren holen, um in der Liga zu bleiben. Klingt einfach. Ist aber eine Herkulesaufgabe, wenn man sich die Statistiken des Grauens und das Nervenkostüm der Mannschaft anschaut. Union Berlin hat nur ein einziges Heimspiel verloren. Und der VfB? Der hat erst ein Auswärtsspiel gewonnen, was bereits ein halbes Jahr zurückliegt. Wenn man nun eins und eins zusammenzählt, fällt mir kein einziges Argument ein, was am Montag für uns sprechen könnte. Dabei wäre es vielleicht gar nicht so schwer gewesen, es gar nicht erst auf das Rückspiel ankommen zu lassen.

Vielleicht hätte es gereicht, das Risiko einzugehen und in alter Zorniger-Manier alles nach vorne zu schicken, auf dass die Tore fallen. Und hinten irgendwie alles wegbolzen, egal, muss nicht schön sein, aber Hauptsache kein Gegentor. Nico Willig hatte in seiner Pressekonferenz vor dem Spiel aufgerufen, er brauche mindestens 55.000 Signalspieler auf den Rängen. Und die bekam er auch, mit einer brachialen Stimmgewalt, wie ich sie schon viele Jahre nicht mehr im Neckarstadion erlebt habe. Wir müssen naiv gewesen sein, zu glauben, dass wir damit bei der Mannschaft Gehör finden würden.

Zweimal Nachsitzen, bitte!

Diese Nervosität kannte ich von mir gar nicht mehr. Wann immer ich in den letzten Monaten gefragt wurde, wie das nächste Spiel des VfB wohl ausgehen würde, seufzte ich stets und meinte nur “Keine Ahnung – ist mir irgendwie auch egal”. Aller Verwunderung zum Trotz war es das auch irgendwie, der Bruch mit der Mannschaft wurde durch die sportliche Situation nur noch größer. Lieber direkt absteigen, als sich in der Relegation noch einmal öffentlich vor ganz Deutschland zu blamieren, das hatte ich vor einigen Wochen hier in diesem Blog noch geschrieben. Nach vorne ging nichts mehr, nach hinten aber auch nicht. Endstation Relegation. Das Schlimmste für einen Fan, ganz egal welchen Vereins. Diese Qual, noch zwei Extraspiele erdulden zu müssen, hoffen zu müssen, bangen zu müssen, um dann wegen einem kleinen Augenblick entweder abzusteigen oder den Sprung nach oben zu verpassen.

Eine Belohnung für die, die eine ganze Saison lang ihrer Erstligatauglichkeit schuldig geblieben sind. Eine Bestrafung für die, die sich eine ganze Saison ins Zeug gelegt haben. Dankbar ist die Situation für niemanden, weder für die einen, noch für den anderen. Drei Aufsteiger, drei Absteiger – so schwer ist es doch nun wirklich nicht. Und nun standen wir da, fest zementiert auf dem 16. Tabellenplatz, nicht zu wissen, ob und wie es weitergeht. Vor zehn Jahren besuchte ich mein erstes Relegationsspiel, einst in Cottbus mit VfB-Trikot. Damals konnte ich noch nicht begreifen, wieviel Unheil diese Wiedereinführung der Relegationsrunde für die Fans bereit hält, und ich wusste erst recht nicht, dass ich zehn Jahre später erneut ein Relegationsspiel besuchen müsste.

Je näher der 23. Mai an uns heranrückte, desto mehr Unbehagen machte sich breit. Der VfB hatte nur eine Chance, die Relegation zu seinen Gunsten zu gestalten, er müsse zumindest schonmal das Heimspiel gewinnen, und zwar am Besten hoch und deutlich. Denn in der Alten Försterei etwas holen, wenn man erst einen Sieg beim abgeschlagenen Tabellenletzten geholt hat, damit rechne man lieber nicht. Das hat man der Mannschaft aber offenbar nicht verraten. Dabei war alles vorbereitet für einen emotionalen Abend, der uns mit einem guten Gefühl zum Rückspiel hätte fahren lassen. Beinahe ausverkauftes Haus, ein riesiger Fanmarsch vor dem Spiel, ein ganz starker Support von den Rängen. Vielleicht bin ich nicht die Richtige, das zu beurteilen, aber ich frage dennoch: Warum hat das nicht gereicht?

Willkommen zurück, nervöse Anspannung!

Noch einmal so aufgeregt zu sein, kannte ich schon gar nicht mehr von mir. Es erinnerte mich in vielerlei Hinsicht an den Tag vor genau vier Jahren, als der VfB in Paderborn zum Siegen verdammt war. Einmal die komplette Emotionsklaviatur, ein unvergesslicher Tag mit Trauer, Tränen, Wut und Freude. Damals ein glückliches Ende, das aber ein Jahr später dennoch die Zweitklassigkeit bedeutete. Hilfe, meine Nerven. Die Anspannung war spürbar, nicht nur bei mir, sondern beim gesamten Umfeld. Nur ein paar Unentwegte gaben zu Protokoll, keinerlei Nervosität zu verspüren, sie seien ganz entspannt und wären sich sicher, dass dem VfB die Wichtigkeit eines möglichst hohen Heimsieges schon bewusst sein wird. Sich nun zwei Tage danach noch immer vor Augen zu halten, was letztendlich dabei herauskam, fühlt sich unheimlich übel an. Ich will diese Zeilen eigentlich gar nicht schreiben. Ich will nur, dass das alles endlich vorbei ist.

Ich will der Mannschaft gar nicht unterstellen, sie hätte keine Lust auf die Partie gehabt, auch hatte sie nicht ihre schlechteste Saisonleistung dargeboten, aber es war in Summe einfach nicht genug. Dabei hätte es so wunderbar werden können. Der Sololauf von Anastasios Donis, fantastisch, die komplette Unioner Abwehr vernascht und dann dieses Tor von Christian Gentner, mit diesem absoluten Willen. Wie viel da von ihm abgefallen ist, zeigte dieser Torjubel. Und nicht nur bei den Spielern, die sich auf ihn warfen, spürte man die Wichtigkeit – auch auf den Rängen eskalierte es. In einer einzigen Bierdusche verschmolz die Kurve zu einem einzigen großen Jubelhaufen. So groß die Euphorie in diesem Moment war – sie erstickte nur 87 Sekunden später. Fahrlässig verteidigt, alles begann von vorne.

Nico Willig brachte Mario Gomez für Daniel Didavi. Noch am Nachmittag hatte mich mein Chef gefragt, wann er denn das letzte Tor gemacht hat. “Berlin, meine ich” antwortete ich, gefolgt von einem “Und wenns nach mir geht, heut Abend wieder”. Gesagt, getan. Ich habe es nicht einmal richtig gesehen, ich sah ihn nur im Rücken der Unioner Abwehr Richtung Cannstatter Kurve rennen, doch meinte ich, der Ball flog woanders hin. Bis, ja, bis die Kurve erneut eskalierte. Un. Fass. Bar. Das war fast zu viel für mich, mit weichen Knien hielt ich die Kamera nach oben, drückte den Auslöser und hoffte, irgendetwas brauchbares zu bekommen, als sich die Jubeltraube der Spieler direkt vor meinem Block versammelte. Fehlanzeige. Alles unscharf, nicht brauchbar. Es war mir in diesem Moment egal.

Remis gespielt, doch im Grunde verloren

2:1 nun also. Nicht das perfekte Ergebnis, aber besser als verlieren. Jetzt nur irgendwie das Ergebnis halten oder noch ein, zwei Tore drauflegen. Der Wille der Unioner musste gebrochen werden, unter jeden Umständen. Spannung lag in der Luft, es knisterte überall und die Kurve zeigte eine Performance, die Gänsehaut machte. Es war fast so, als wollte die Kurve das 3:1 selbst erzielen und die Spieler würden genau das spüren. Ganz egal, was vorher war, man musste gewinnen, irgendwie. Aber das 3:1 ließ auf sich warten. Es war jene Zeit des Spiels, wo es den Dauerdruck unserer Mannschaft gebraucht hätte, wer weiß, die Berliner hätten sich davon vielleicht nicht mehr erholt.

In dieser Phase der Partie nicht die letzten Kraftreserven zu mobilisieren, wurde uns auch alsbald zum Verhängnis. Eine Ecke für Union, ein Kopfball von Marvin Friedrich, der zuvor noch von Mario Gomez im Gesicht angeschossen wurde und offiziell der Eigentorschütze war, und schon war alles, was man sich durch das 2:1 aufgebaut hatte, wieder zunichte gemacht. 2:2. Im eigenen Stadion. In diesem so brutal wichtigen Spiel. Ich konnte das einfach nicht glauben. Und dass wir damit letztlich auch noch gut bedient waren, auch nicht. Die letzten 20 Minuten waren es die Gäste aus der Hauptstadt, die dem dritten Tor ganz nah gewesen sind, wäre da nicht Ron-Robert Zieler gewesen.

Nach 94 Minuten war es vorbei. Kein drittes Tor, für niemanden. Nicht verloren, aber wir wussten alle, was das nun bedeutet. Mit mehr als einem Bein in der zweiten Liga, unabhängig davon, dass auch im Rückspiel noch alles passieren kann. Es gab bereits Tage, da hat uns die Mannschaft überrascht und hat das gezeigt, was niemand von ihr in dieser Form erwartet hatte, zuletzt das 3:0 gegen Wolfsburg im letzten Heimspiel. Sie können, wenn sie wollen. Doch die Tatsache, dass sie das nicht immer abrufen können, hat uns erst in diese Lage gebracht, in Berlin noch einmal um alles zittern zu müssen. Bei der Charakterfrage versagt und nun im alles entscheidenden Showdown gefordert. Wie es wohl derzeit in den Spielern aussieht? Sind diese ebenso nervös wie wir Fans?

Noch ein einziges Mal

Szenen wie diese gab es schon so oft in dieser Saison. Ein weiteres bescheidenes Spiel, (gefühlt) verloren, nicht alles gegeben, ein weiteres Mal versagt. An dieser Stelle standen wir schon viel zu viele Male. Noch einmal machten sich die Spieler auf den Weg zur Kurve, mit hängenden Köpfen und ernsten Minen und mussten sich dem unausweichlichen stellen: dem Urteil ihrer eigenen Kurve. Von überall kamen Pfiffe, doch war es vielmehr die eindeutige Gestik, die mir aufgefallen war. Ich vermag nicht für jeden zu sprechen, aber es hatte mehr etwas von einem Aufrütteln als von Aggressivität. Wie sie damit umgehen und am Montag in Berlin das Feld betreten, werden wir abwarten müssen. Noch zwei verdammt lange Tage.

Der Gedanke an Montag macht mich wahnsinnig. Das Warten. Das Nicht-Wissen, wie es weitergeht. Die Anspannung. Die Angst. Die Zweifel. Die Bauchschmerzen. Ein halbes Jahr begleitete ich die Mannschaft auf kein Auswärtsspiel, das letzte Mal war ich in Nürnberg dabei. Richtig, das letzte und auch einzige Auswärtsspiel, das der VfB in 34 Spieltagen mit einem Sieg beenden konnte. Am Montagmorgen werden wir aufbrechen in Richtung Hauptstadt, mit unseren Kameras, einer Ausnahmegenehmigung für Fotografen, jeder Menge Bauchweh und einem kleinen Funken Hoffnung, das Unvermeidbare doch noch vermeiden zu können.

Ich habe Angst, das gebe ich zu. Nicht vor dem Abstieg, dieser Nimbus hatte vor drei Jahren in Wolfsburg seinen Schrecken verloren. Auch bin ich mir sicher, dass wenn es schiefgehen sollte, es ohne Zweifel verdient ist und es nichts gibt, weswegen man sich grämen müsste. Und doch kann ich nicht aufhören, daran zu denken. Es ist die Angst vor dem, was passiert, wenn es dem VfB nicht gelingt, in Berlin zu gewinnen. Dort zu sein, wo so viel euphorische und freudestrahlende Menschen aufs Spielfeld rennen, während man selbst den Absturz verarbeiten muss. Davor nicht weglaufen zu können oder den Fernseher ausschalten zu können, ist der schrecklichste Gedanke dabei. Und auch, wenn wir dort nicht alleine sind und auch in dieser bitteren Stand Halt ineinander finden können, so fürchte ich mich vor diesem Augenblick. Nicht vor dem Abstieg, aber vor der Stunde Null. Es hilft alles nichts. Fahren wir nach Berlin und geben noch einmal alles. Und sei es unser letzter Tanz.

Gefällt mir (3 Bewertungen, durchschnittlich: 1,00 von 1)
Loading...