Es ist vorbei. Der letzte Tanz ist getanzt, die letzte Entscheidung gefallen, das letzte Lied gesungen. Der VfB ist abgestiegen. Wieder einmal. Was ist das für ein seltsames Gefühl? Erleichterung, da die Saison endlich vorüber ist? Frustration, da wir erneut den Gang in die zweite Liga antreten müssen? Enttäuschung, da uns das Wunder verwehrt geblieben ist? Genugtuung, da es nach dieser Spielzeit mehr als verdient gekommen ist? Verzweiflung, da niemand weiß, wie es weitergehen soll? Eine Mischung aus allem lag mir am Montagabend schwer im Magen, als Christian Dingert das Spiel abpfiff und damit Union Berlin zum Aufsteiger und wir zum Absteiger gekürt worden sind. Ein Gefühl, das mich die ganzen letzten Wochen nie wirklich losgelassen hat, und dass sich nun bewahrheitete. Es hat nicht gereicht.
Vor genau diesem Moment hatte ich die allermeiste Angst. Nicht vor dem Moment, in dem der VfB als Absteiger feststeht, sondern vor dem, wenn die Euphorie im Berliner Stadion Überhand nimmt, der Rasen geentert wird und man sich mit gut 2.999 anderen VfB-Fans einer Situation ausgesetzt sieht, der man nicht entkommen kann. Du kannst nicht weglaufen, oder den Fernseher ausschalten. Du musst es ertragen, dass sich die Freude Bahn bricht und man selbst damit ganz alleine ist, auch wenn man liebgewonnene Weggefährten um sich herum hat. Einen Abstieg erlebt jeder auf seine Weise, die einen gefasst und nüchtern, die anderen geläutert und mit bitteren Tränen.
Es dürfte kaum jemanden geben, der behauptet, der zweite Abstieg innerhalb von drei Jahren wäre überraschend gekommen. Seit dem 16. Spieltag machte der VfB keinerlei Anstalten, sich vom Relegationsplatz wegzubewegen. Wären nicht Nürnberg und Hannover noch schlechter gewesen, wer weiß, wir wären vielleicht als Tabellenletzter abgestiegen und hätten uns die Schmach nicht antun müssen, dass ganz Deutschland auf uns schaut und so ziemlich jeder gegen uns gewesen sein dürfte. Mit 28 Punkten hat kein Team verdient, in der ersten Liga zu bleiben. Das weiß-rote Fanherz sieht das naturgemäß ein wenig anders – wir wären schon gerne erstklassig geblieben. Und es gibt nichts, was wir dagegen tun können.
“Absolut verdient” – aber für wen eigentlich?
Wer noch einen letzten Rest Optimismus verspürte, der fand sich bereits am Donnerstagabend am harten Boden der Tatsachen wieder. Nur 2:2 vor heimischen Publikum, zwei Auswärtstore zugelassen und der wahnsinnigen Stimmung eines fast ausverkauften Hauses keine Beachtung geschenkt. Wir wissen alle, dass sich die Relegation schon zu 75% an diesem bitteren Abend entschieden hatte. Union hatte den Aufstieg auf dem Silbertablett von uns bekommen und mussten nur noch zugreifen. Ein heimstarkes Team, ein Stadion als Hexenkessel, der VfB musste gewinnen oder ein Unentschieden mit mindestens drei Toren schaffen, alles sprach gegen uns. Und doch fehlte am Ende nur ein verdammtes Tor.
Warum nur habe ich mich dazu hinreißen lassen, mich nach so vielen Wochen wieder emotional mit reinziehen zu lassen? Ich will damit nicht sagen, dass mich so die Relegation komplett kalt gelassen hätte, aber sie hätte mich emotional nicht so aufwühlen können. So aber wurden die letzten Tage zur Tortour. Mit dem Wissen, dass ein Sieg alleine doch ausreicht, ganz egal, wieviele Monate der letzte Sieg in der Fremde nun schon her ist, das machte aus einem schwierigen, aber machbaren Unterfangen eine fast unbezwingbare. Ein ganzes Land wünschte Union den Aufstieg, überall war zu lesen, dass nur so der Fußball siegen würde, das Gerechtigkeit herrschen würde. Denkt dabei aber mal jemand an die anderen Fans?
Warum spricht man bei Union bei einem Aufstieg, der verdient ist, vor allem für die Fans – und beim VfB von einem Abstieg, der rundum verdient ist, ohne die Fans davon auszunehmen? Wir VfB-Fans haben keinen Abstieg verdient. Davon zu lesen ist allerdings nur selten, es geht schlichtweg unter in der “Hau drauf”-Mentalität der regionalen und überregionalen Medien, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, jetzt, wo das Kind im Brunnen ertrunken ist, mit dem Finger draufzuzeigen. Hätte man doch mal vorher die Probleme beim VfB erkannt und angesprochen. Das wäre ja aber wohl viel zu einfach gewesen.
(Un)bekannte Gefühle
Als am Montag in der Frühe der Wecker klingelte, fühlte es sich so an, als hätte ich das alles schon einmal durchlebt. In gewisser Weise stimmte das auch. Der letzte Funken Optimismus, das Wunder in Berlin zu schaffen, erinnerte mich an 2015, als wie uns auf die Reise nach Paderborn begaben, wo wir nichts weiter tun mussten als gewinnen. Der große andere Teil, der ein verdammt beschissenes Gefühl in der Magengegend verursachte, erinnerte mich an 2016, als wir uns auf die Reise nach Wolfsburg begaben, in dem Wissen, dort zu 90% abzusteigen. Zwei durchaus bekannte Befindlichkeiten, aber doch irgendwie anders als die letzten Male.
Wie viele wirklich geglaubt haben, dass der VfB doch noch seinen Kopf aus der Schlinge zieht, vermag ich nicht zu beurteilen. Aussprechen wollte es zumindest keiner. Nach außen waren wir die unverwüstlichen Schwaben, die natürlich davon ausgingen, der VfB würde gewinnen. Aber eben nur nach außen. Wie es in uns drinnen aussah, konnte man erahnen, wenn man sich die Gesichter vor dem Gästeblock der Alten Försterei genau angesehen hat. Einige lächelten, machten ihre Scherze, tranken Bier. Aber in ihren Augen konnte ich die Anspannung sehen, die steifen Gesichtszüge, die bleichen Gesichter. Abstiegsangst ist ein beschissenes Gefühl. Eines, das wir die letzten Jahre viel zu oft zu spüren bekommen hatten.
In großen Lettern war Nick Hornbys wohl schönstes Zitat zu lesen: “Ich verliebte mich in den Fußball, wie ich mich später in Frauen verlieben sollte: plötzlich, unerklärlich, unkritisch und ohne einen Gedanken an den Schmerz und die Zerrissenheit zu verschwenden, die damit verbunden sein würden.” Wie recht er damit wohl hatte. Es heißt, dass die Liebe zum Verein niemals erlöschen wird, aber wenn wir in unserem Leben die Chance bekommen hätten, zu wissen, was später auf uns zukommt, hätten wir diesen Weg denn weiter verfolgt, uns gequält, mit Kummer, Schmerz und mehreren Abstiegen, als wir verkraften können?
Koste es, was es wolle
Das Warten hatte ein Ende. Da stand ich nun, im Gästeblock, suchte mir ein anständiges Plätzchen und war bereit, für das was kommt. Aber kann man dafür wirklich bereit sein? Die Ränge füllten sich und die Anspannung wurde minütlich größer, wobei ich nicht dachte, dass das überhaupt noch möglich ist. Ein Blick auf meinen Pulsmesser. Die Zahl 110 ließ mich erahnen, dass ich alles andere als die Ruhe selbst war. Union würde keinen Zweifel daran aufkommen lassen, heute aufzusteigen. Der unvermeidliche Platzsturm am Ende des zu erwartenden Spiels machte mir Sorgen. Wie würde ich damit wohl umgehen? Ich musste abwarten und es einfach über mich ergehen lassen. Nicht weglaufen zu können fühlt sich mindestens genauso beschissen an.
Ich ertrage es nicht, mir das Spiel noch einmal anzusehen. Und ich weiß genau, dass ihr das auch nicht könnt. Wir wissen alle, wie es ausgegangen ist. Wir wissen alle, wie hoch die Wellen der Begeisterung schlugen und der Gästeblock eskalierte, als Dennis Aogo mit einem direkten Freistoß den VfB in Front brachte. Wir wissen alle, wie versteinert wir waren, als wir registrierten, dass man das Tor im Kölner Keller überprüft hatte. Wir wissen alle, dass Nico Gonzalez die wohl dämlichste Abseitsposition aller Zeiten eingenommen hatte, er aber natürlich nicht der Schuldige an der Misere war. Wir wissen alle, dass der VfB danach zwar mehr oder weniger hilflos nach vorne bolzte, das Tor aber nicht mehr gelingen wollte. Wir wissen alle, wie es sich angefühlt hat, wie in uns die Angst hochkroch, das eine verdammte Tor würde vielleicht nicht mehr fallen. Wir wissen alle, dass die Mannschaft nichts anderes verdient hat, aber wir dennoch die Leidtragenden sein würden.
Wenige Minuten nur noch. Wieviele genau, das wusste wohl keiner so genau, ohne Blick auf die Anzeigetafel konnte man nur mutmaßen, wann die letzte Minute geschlagen hatte. Immer hektischer, immer unruhiger, immer knisternder. Alle paar Minuten erstrahlte der Gästeblock in einer orangenen Wolke und bot genug Bildmaterial für ganze drei Spiele, alle schrien wir die Mannschaft, oder das, was sie zumindest nach außen darstellen sollte, nach vorne. Nur noch ein einziges Tor, egal wie, egal wer, bis in die lange Nachspielzeit hinein, und wenn Zieler mit nach vorne geht, egal, was hatten wir jetzt schon noch zu verlieren? Aber es half nichts. Bedingungsloser Support und aus voller Inbrunst schreiende Laute wichen der schockierten Versteinerung.
Es ist vorbei
Es muss kurz vor 22:30 Uhr gewesen sein, da ging mein Blick zu den Trainerbänken. Den Schlusspfiff von Christian Dingert hätte in dem lauten Getöse der Alten Försterei ohnehin keiner mehr vernehmen können. Erst als ich sah, wie die Unioner aufs Feld rannten, war es bittere Gewissheit. Alles, was nun kam, war genau das, was ich niemals sehen wollte. Sehr schnell öffnete man die Tore aller Blöcke und ließ die Berliner Fans aufs Spielfeld laufen. Diese grenzenlose Freude und Erleichterung mit ansehen zu müssen, während man selbst den bitteren Gang in die zweite Liga antreten muss, ist nichts, was sich ein Berliner Fan auch nur vorstellen kann. Einige von ihnen werden diese Zeilen vielleicht lesen, sich ergötzen am Unheil der Anderen. Aber wären wir denn so viel anders gewesen?
Ich erinnere mich noch an unsere Aufstiegsfeier gegen Würzburger am letzten Spieltag 2017. An VfB-Fans, die vor den Gästeblock der gerade eben in die 3. Liga abgestiegenen Würzburger rannten und sie provozierten, kann ich mich nicht erinnern. Warum hat man so etwas denn nötig? Warum hatten die Berliner das nötig? Ein schwarzer Mob tauchte schneller vor dem Gästeblock auf, als man registrieren konnte, mit breiter Brust und einem hämischen Grinsen. Brennende Bengalos sah ich in den Gästeblock hinein fliegen, mit voller Absicht und im Bestreben, VfB-Fans wissentlich zu verletzen. Auch sah ich ganz normale Unioner, die über das komplette Feld rannten, nur um vor dem Gästeblock den breiten Max zu markieren mit Stinkefinger und pöbelnden Gesten. Reicht einem der eigene Aufstieg nicht aus, hat man es wirklich nötig, die anderen nieder zu machen?
Überall brannte es. Auf dem Feld, in der Berliner Kurve, Berlin im Ausnahmezustand. Und wir 3.000 Frustrierte, Enttäuschte, Wütende. Viele suchten das Weite, bevor es vor den Toren des Stadions zu weiteren Auseinandersetzungen kommen konnte, auch wir verschwanden ungesehen in der Nacht. Schnell hinein in die Straßenbahn, egal wohin, nur schnell weg von hier. Viele VfB-Fans in der Bahn, welche die man anhand ihres Trikots als solche identifizieren konnte, und solche, bei denen man es anhand der finsteren Mine und der hängenden Köpfe feststellen konnte. Wir hatten gar keine Zeit, das alles zu verarbeiten, jeder wollte nur schnell weg aus Köpenick.
Eine bittere Erkenntnis
Nur langsam sickerte die Erkenntnis durch. Vor einigen Wochen lachten wir noch über den Nichtaufstieg der Hamburger, nur um jetzt festzustellen, dass wir in der nächsten Saison wieder dort antreten müssen. Hannover, Sandhausen, Heidenheim. Oh Gott. Für mich persönlich wären es drei neue Stadion in Liga Zwei: Regensburg, Osnabrück und Kiel fehlen mir bisher noch. Aber abgesehen davon, welchen Reiz hat denn das Unterhaus in der kommenden Saison? Eine reinigende Wirkung? Die Chance, sich neu zu strukturieren und für die nächsten Jahre besser aufzustellen? An beides kann ich momentan nicht recht glauben. Nicht, solange sich Wolfgang Dietrich an seinem Thron festkrallt. Natürlich haben die Mannschaft und die verschiedenen Trainer (mit Ausnahme der armen Sau Nico Willig) den Karren in den Dreck gefahren, aber alle Entscheidungen kamen direkt oder indirekt durch ihn. Dietrich raus. Unter jeden Umständen.
Vor einigen Wochen hatte ich noch geschrieben, dass ich müde bin, und froh, wenn die Saison vorüber ist, ganz egal mit welchem Ergebnis. Sie ist nun vorüber, mit mehr Qual, Imageverlust und Enttäuschungen als man sich noch vor einiger Zeit hätte vorstellen können. Aus dem Wunsch, lieber direkt abzusteigen, ohne sich zu blamieren, wurde nichts. Stattdessen stehen wir nun im Schaufenster der Peinlichkeit, ein einst so stolzer Traditionsverein, erneut abgestiegen und dem Spott der Nation ausgesetzt. Ein direkter Wiederaufstieg wird schwer, nicht nur weil wir uns 2017 nur knapp gegen Hannover alleine durchsetzen mussten, sondern weil nun mit Hamburg, Hannover und Nürnberg gleich mehrere Schwergewichte wieder aufsteigen wollen. Kein leichtes Unterfangen für Neu-Coach Tim Walter.
Vieles wird nun in Bewegung sein. Viele Spieler werden den Verein verlassen wollen oder müssen, ein bisschen Geld kommt in die Kasse, doch wann war es für den VfB denn jemals gut, viel Geld zu haben? Das Ausgliederungsgeld ist längst verpulvert, in der Haushaltskasse ein Minus von fast zwölf Millionen, die “besten” Spieler auf dem Absprung und eine Fangemeinde, die emotional nicht weiter vom Verein entfernter sein könnte. Wir wissen, dass wir eigentlich direkt wieder aufsteigen müssen. Das zu kitten, was in dieser Spielzeit zerstört wurde, allen voran das Vertrauen der Anhängerschaft, das kann schlimmstenfalls noch einige Jahre dauern. Ich kann verstehen, wenn die meisten ihre Dauerkarten trotzdem wieder verlängern. Ich kann aber vor allem jene verstehen, die sagen, sie seien fertig mit dem VfB, zumindest fürs erste. Ich kann nicht sagen, dass die Zeit in der Bundesliga immer toll war. Dort geblieben wäre ich allerdings trotzdem gern. Vielleicht bis bald. In einem Jahr? In zwei Jahren, oder drei? Das weiß keiner.
33 Jahre, gebürtig aus Leipzig, seit 2010 wohnhaft in Stuttgart – Bad Cannstatt. Dauerkartenbesitzerin, Mitglied, ehemalige (Fast-)Allesfahrerin und Fotografin für vfb-bilder.de. Aus Liebe zum VfB Stuttgart berichte ich hier von meinen Erlebnissen – im Stadion und Abseits davon.
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