Es hatte gewissermaßen etwas Beklemmendes. Wo sich normalerweise die Cannstatter Kurve die Seele aus dem Hals schreit, herrschte gespenstische Stille. Ein harmloses Grundrauschen entstand, 52.739 Zuschauer waren ins Neckarstadion gekommen und schwiegen. Es war so still, dass man die Anweisungen unseres Torwarts hatte hören können. Uns gegenüber war der Gästeblock im Unterrang gut gefüllt, auch dort bewegte sich nichts. Kein Schreien. Kein Hüpfen. Kein Singen. Kein Klatschen. In großen Lettern hatten beide Fanlager die selben Worte auf ein großes Transparent gemalt, das zu beiden Seiten gleichermaßen lesbar war: “Vereine ihr habt es in der Hand – Alle Montagsspiele abschaffen!” Eine sonst so seltene Einigkeit deutscher Fanszenen, vereint im Kampf um das selbe Ziel. Eine gute Sache – auch wenn das nicht jeder im Stadion verstehen wollte.

Kontrovers diskutiert wurde die seit Wochen im ganzen Land geplante Aktion durchaus, insbesondere bei unserem VfB. Wie sinnvoll es ist, der Mannschaft in dieser brenzligen sportlichen Situation “die Unterstützung zu versagen”, hörte und las man in den letzten Tagen immer wieder. Dabei geht es um so viel mehr als den VfB. Es geht um die Zukunft der deutschen Fankultur und der Art und Weise, wie Fußballfans künftig Freude am Stadionbesuch haben können – oder eben nicht. Montagsspiele sind in der zweiten Liga seit Jahren ein großes Ärgernis, bis in die Bundesliga hat es der unbeliebteste aller Spieltage nun auch geschafft. Dieser und weitere Punkte sind den Fanszenen ein Dorn im Auge. Wieviel wir mit Protesten erreichen können, wird sich zeigen müssen.

Kein Support in der ersten Halbzeit, das war weitläufig kundgetan worden. Hoffentlich auch bei der Mannschaft. Nach einem punkt- und trostlosen Auswärtsspiel in Leverkusen, dem ich bewusst nicht für einen Urlaubstag beiwohnen wollte, war die Motivation erneut am Boden. Oft braucht es nicht mehr als ein Erfolgserlebnis, nicht wahr? Dass die Siege gegen Bremen und Nürnberg für den “Jetzt gehts los!”-Moment nicht ausreichten, wissen wir aber natürlich selbst. Wie soll es also weitergehen? Was ist, wenn wir auch gegen Augsburg verlieren? Was ist, wenn Markus Weinzierl hinschmeißt? Was ist, wenn wir gar nicht mehr in die Spur kommen? Alles, was uns bleibt, ist die Hoffnung. Bei einem mehr, beim anderen weniger.

Gedanken an den erneuten Abstieg

Irgendwann stumpft man etwas ab und wird unempfindlicher für den Schreckensgedanken eines Abstiegs. So bitter der Abstieg 2016 war, er mündete in eine letztlich abenteuerliche Spielzeit, die unvergessen bleibt und schenkte uns zumindest für eine kurze Zeitspanne das Gefühl, es hat diesen großen Abstieg gebraucht, um neu anzufangen und in eine gute Zukunft zu starten. Man missbrauchte unser Vertrauen und bewies uns erneut, dass sich in diesem Verein nichts ändert. Wir alle kennen die Antwort auf die Frage, ob sich eine Zweitligasaison auf ähnliche Weise wiederholen könnte und neue Euphorie entstehen lässt. Vielleicht wird es dann eher das, was ich 2016 bereits befürchtet habe. Eine dunkle, trostlose Zeit. Und alles, was bleibt, ist die Erinnerung an die tollen Zeiten, die wir doch mal hatten.

Ohne wirkliche Erwartungen machte ich mich am frühen Nachmittag auf dem Weg zum Stadion, mit meiner Kamera, einem Arsenal an Tempos und jeder Menge Hustenbonbons. Eine Erkältung machte mir die Tage zuvor zu schaffen, fürs Stadion reichte es bereits aus. Ausverkauftes Haus würde es heute nicht geben, einige Tage zuvor waren im Zweitmarkt des VfB noch zahlreiche Stehplatztickets in der Cannstatter Kurve zu haben. Nicht nur das ist ein deutliches Zeichen, wie viel Vertrauen und Leidenschaft in den vergangenen Wochen abgeflaut ist. Auch mir persönlich geht es nicht anders. Man steht nicht eines Tages auf und entscheidet sich, den Verein weniger zu lieben, es kommt langsam, leise und schleichend. Man liebt den Verein schon noch. Nur eben anders.

Um mich herum die selben Gesichter, ich hatte sie schmerzlich vermisst seit dem letzten Heimspiel vor fast einem Monat. In Zeiten, in denen die sportliche Entwicklung kaum bitterer sein könnte, ist es oft das einzige, was einem noch vom Stadionbesuch bleibt. Nicht die Elf im Brustringtrikot auf dem Rasen, sondern die anderen verrückten Masochisten, die genauso wenig eine Antwort auf die Frage haben wie man selbst, warum man sich das trotz allem immer wieder antue. Der Ball rollte bereits in einem nicht ausverkauften, aber unheimlich stillen Stadion. Man sprach darüber, wie es so im Geschäft läuft, was man an Weihnachten geplant hat, oder wie es der Familie so geht. Um das Spiel ging es eher nebensächlich.

Freie Sicht inmitten der Stille

Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zum letzten Mal tatsächlich dem Spielverlauf folgen konnte. Fest umklammert hielt ich die Kamera trotzdem, Spielszenen gab es ja schließlich auch zu dokumentieren. Julian Schieber, von dem ich bis zu diesem Moment nicht mal mitbekommen hatte, dass er nach Augsburg gewechselt ist, bekam für das Foul von Benjamin Pavard einen Freistoß an der Strafraumgrenze. Der brachte zwar nichts ein, aber keine zwei Minuten später revanchierte er sich an der Seitenlinie. Auf einmal Geschrei, wildes Getümmel, Rudelbildung, Schubserei. Mein erster Eindruck war, es sei ein Ellenbogencheck vom ehemaligen Stuttgarter gewesen, auch die Kurve konnte sich kaum noch beruhigen. Erst die abendlichen Sportschaubilder lösten es auf, es war dann wohl doch nicht so dramatisch, wenngleich mir ein Platzverweis für Julian Schieber gut gefallen hätte – nur, damit es keine weitere “Ausgerechnet”-Geschichte gibt.

Es war kein gutes Spiel, aber auch kein ganz schlechtes. Sie kämpften, das alleine musste für dieses Spiel reichen. Mehr war da allerdings noch nicht. Die Abläufe klemmen noch gewaltig und der Drang nach vorne ist nachwievor ausbaufähig, aber sie bemühten sich. Das konnte man ihnen in so manchem Spiel in dieser Hinrunde nicht wirklich attestieren. Mittlerweile war die erste Halbzeit schon beinahe vorüber, ab der zweiten Halbzeit sollte es dann beiden Seiten wieder den vollen Support für die eigene Mannschaft geben. Damit gerechnet, dass spielerisch noch etwas passiert, hatte man wohl nicht, draufgehalten habe ich wie immer trotzdem, bei jeder aussichtsreichen Torchance in Richtung Untertürkheimer Kurve. So viele Male hatte das Timing gepasst. Beim VfB passte das Timing auch.

Inmitten der Stille des Stadions reichte eine kurze, gezielte Ballstafette aus der eigenen Hälfte aus. Es ging beinahe zu schnell, dem zu folgen, so etwas ist man schließlich von unserer Mannschaft zuletzt nicht gewohnt gewesen. Ein erster Klick auf den Auslöser, ein zweiter, und ein dritter. Das vierte Foto erwartungsgemäß unscharf und unbrauchbar, dafür die ersten drei umso besser. Wer, wenn nicht er. Einer der wenigen Hoffnungsträger in einer Phase der Dunkelheit. Drei Monate verletzt, eine halbe Woche trainiert und schon in der Startelf. Schon gegen Bremen hatte ich es geschrieben. Anastasios Donis. Einfach anders als der Rest.

Über Stimmung, Sahnetage und seltsame Entscheidungen

Mit einem noch recht verhaltenen Torjubel und einem gemeinsamen Anti-DFB-Wechselgesang mit dem Augsburger Gästeblock ging es in die Pause. Grund zur Freude gab es noch lange nicht, dafür kenne ich die Pappenheimer zu gut. Und dennoch freute ich mich, dass wir der Mannschaft nun die Unterstützung zugestehen konnten, die sie immer von uns gewohnt sind. Vollgas, volle Lautstärke und mit aller Kraft, die wir in uns haben. Diese Unterstützung brauchte die Mannschaft auch, denn sie geriet nach Wiederanpfiff zunehmend in Bedrängnis. Schon nach kurzer Zeit war die Eckballdifferenz uneinholbar, immer öfter schossen die falschen Schwaben aufs Tor und wir können uns bei Ron-Robert Zieler bedanken, dass er heute einen Sahnetag erwischt hatte.

Die knappe Führung wackelte. Aber der Torschütze war bereits ausgewechselt, die Puste reicht noch nicht. Am Ende des Tages gingen wir mit der Gewissheit schlafen, dass es ausgereicht hat – wohl war einem in diesem Moment aber nicht. Erst eine gute Viertelstunde später rappelte sich der VfB wieder unter den bekannten Klängen und Farben der Kurve. Nach vorne ging kaum mehr etwas, man wollte die Null halten. Das klang nach einem Plan – nur leider nicht nach einem guten Plan. Mario Gomez machte Platz für Erik Thommy, ein umstrittener Publikumsliebling, der das Herz am rechten Fleck hat, für einen anderen, jungen, Publikumsliebling, den keiner so recht auf dem Schirm hatte. Mehr Tempo, mehr Dynamik, mehr nach vorne, ein Wechsel mit viel Sinn. So sehr wir auch hofften auf das zweite Tor, es wollte einfach nicht fallen.

Ich bin mir sicher, ich war nicht alleine mit dem Gedanken: Was ist, wenn die Augsburger noch irgendwie…? Bis in die fünfminütige Nachspielzeit umklammerte mich der Gedanke. Und Erik Thommy? Jeder kann seinen Frust verstehen, wer erst in der 74. Minute eingewechselt und in der Nachspielzeit wieder ausgewechselt wird, kann nicht zufrieden sein, die vielbesagte Höchststrafe für einen Fußballspieler. Markus Weinzierl wollte keinen kopfballgefährlichen Verteidiger vom Feld nehmen, dass er ausgerechnet ihn runternehmen musste statt Christian Gentner oder Nico Gonzalez, verstand wohl niemand. Trösten konnte man ihn an diesem Abend nicht, auch nicht der Trainer selbst, der mit dem Abpfiff die Arme hochriss und direkt danach den Jungen einfangen wollte. Eine seltsame Entscheidung, aber am Ende stehen die drei Punkte über allem. Das wird auch Erik Thommy so akzeptieren (müssen).

Von Wichtigem und Unwichtigem

Erleichterung. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Unheimlich wichtige drei Punkte, wenn auch der Sorte “weniger emotional”. Es gibt nur eine Möglichkeit, das angeknackste Verhältnis zwischen Mannschaft und Fans wieder zu kitten. Kämpfen, alles geben, gewinnen und sich selbst aus dem Dreck ziehen, Woche für Woche aufs Neue. Der Weg in dieser Saison ist noch länger als der Geduldsfaden der Anhängerschaft in dieser brenzligen Zeit. Vertrauen, das einmal verloren gegangen ist, lässt sich nicht in einem Spiel wiedergutmachen. Das weiß wohl auch die Mannschaft, lief zu uns vor die Kurve, hüpfte das obligatorische Sieges-1893, klatschte kurz und verschwand wieder in der Kabine. Mehr wollte die Kurve aber auch nicht.

Am nächsten Sonntag muss der VfB in Mönchengladbach antreten, und er muss es ohne den nun nach seiner fünften gelben Karte gesperrten Santiago Ascacibar tun, er muss es auch ein weiteres Mal ohne uns tun. Die Prioritäten haben sich etwas verschoben, bis Weihnachten gilt es, im Geschäft Vollgas zu geben, Müdigkeit aufgrund eines Heimkommens weit nach Mitternacht oder gar Urlaubstage sind nicht drin. Wenn ich lieb fragen würde, wäre es vielleicht kein Thema. Ich will aber derzeit nicht fragen.

Zwei Heimspiele hält das Jahr 2018 noch für mich bereit, nach Wolfsburg fahre ich auch nicht. Zu Beginn des neuen Jahres steht das Heimspiel gegen Mainz und das Auswärtsspiel in München noch in den Sternen, eine geplante kleine Operation mit ungewisser Ausfalldauer macht es für mich schlecht planbar. Ich kann nicht sagen, dass mich dieser Gedanke vollends fertig macht. Das muss dieses “Entspannter werden” sein, das man mir all die Jahre empfohlen hat. Es tut mir gut, auch mal nicht dabei zu sein. Noch. Wie das ganze aussehen würde, wenn der VfB ähnlich erfolgreich unterwegs sein würde wie in der vergangenen Rückrunde, ja, das steht auch einem anderen Blatt.

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