Ich bin nicht leicht zufriedenzustellen. Ein höchstwahrscheinlicher, 99-prozentiger und fast perfekter Klassenerhalt reicht mir einfach nicht – bei so etwas nehme ich es genau. Solange noch eine rechnerische Restwahrscheinlichkeit bleibt, noch zum Relegationsplatz durchgereicht zu werden, bleibt der Zeigefinger oben und die Anspannung groß. Was habe ich mir nicht wieder alles anhören dürfen, aber sind meine begründeten Zweifel wirklich so abwegig? In den letzten Wochen hat die Mannschaft vieles vermissen lassen, vor allem den Willen, wirklich alles für den rechnerischen Klassenerhalt zu geben. Erst als Berkay Özcan zum 2:0 traf, war der Spuk für mich vorbei, der für so viele andere in den letzten Wochen überhaupt kein Thema mehr war.

Dass wir nun drei Spieltage vor Ende der Saison bereits durch sind, hatte ich Ende Januar nicht für möglich gehalten. Eine Situation, die neu für mich ist, nach einigen Jahren, in denen es noch am letzten Spieltag um alles ging. Wie soll man damit umgehen, wenn einem diese Form des entspannten Saisonendspurts zuteil wird? An diesem Sonntag liegen drei anstrengende Tage hinter mir, die ich erst einmal verarbeiten muss, sowohl kräftetechnisch als auch bildertechnisch. Das alles jedoch mit einem Lächeln, denn nach ein paar zähen Wochen habe ich gestern im Neckarstadion wieder etwas gesehen, was uns schon vor zwei, drei Wochen den Klassenerhalt hätte bescheren können: der absolute Wille, auch dann, wenn man fußballerisch sichtlich limitiert ist.

Dieses traumhafte Wetter. Dieser sensationelle Support in der Schlussviertelstunde der Partie. Dieser vibrierende Boden unter meinen Füßen. Und dieser Moment, indem ein einziges Tor jegliche Sorgen fürs erste abfallen lässt. Fußball kann manchmal einfach eine tolle Sache sein, auch wenn sie das für mich nur selten ist. Gehen andere jederzeit ganz entspannt zum Stadion, zum Biertrinken und einem Wiedersehen mit Freunden, ist es für mich doch sehr viel mehr geworden. Was das für mich, meine Gesundheit und die nächste Saison bedeutet, bleibt noch abzuwarten. Hier und heute freue ich mich und gestehe mir dafür auch gerne ein, dass ich mich mit meinen Prognosen geirrt habe – Grund für diese Prognosen hatte ich allerdings schon.

Mehr Frust statt Lust

Viel Grund zur Freude gab einem der VfB in den letzten Wochen nun wirklich nicht. Zwei trostlose Heimspiele gegen Hamburg und Hannover, die man beide zwingend hätte gewinnen müssen – schon alleine aus Prinzip – und eine deutliche Niederlage in Dortmund. Hätte man die Erfolgsserie in den Wochen zuvor nicht gehabt, wer weiß, wo man da jetzt stehen würde. Alleine dafür gebührt Tayfun Korkut unser Respekt, denn das hatte so wohl niemand voraussagen können. Dass ich dennoch dabei bleibe, dass dieser Trainertyp vermutlich nicht der ist, der den VfB in den nächsten Jahren erfolgreich prägen und weiterentwickeln wird, sei mir verziehen, auch wenn ich denke, damit nicht alleine zu stehen.

Nachdem Wolfsburg am Freitagabend deutlich verloren hatte, würde uns ein Unentschieden reichen. Das wusste die Mannschaft vielleicht auch, umso weniger Lust hatte ich auf die Partie. Ich war mir sicher, die Mannschaft wäre bereits im Sommerurlaub und hält es nicht für nötig, noch einmal Gas zu geben, bis man die Ziellinie überschritten hat, zu frustrierend waren die letzten Spiele für mich. Der erste Tag des Frühlingsfestes auf dem Cannstatter Wasen lockte zahlreiche Bazitrachten in die Stadt, dass der VfB sogar einen Hinweis gab, möglichst nicht in Wasentracht ins Stadion zu kommen, zeigte Wirkung – nur 2 Lederhosen hatte ich nach dem Spiel gesichtet.

Dämpfig warm war es im Kessel, sommerliche Temperaturen um die 26 Grad machten den Samstag zu einer perfekten Gelegenheit, den Klassenerhalt klarzumachen. Wie der VfB mit solchen Gelegenheiten ganz gerne mal umgeht, wissen wir allerdings selbst gut genug. Durch die Menschenmassen hindurch lief ich zum Stadion, hinein in den Block und entspannte mich erst einmal auf dem Hosenboden sitzend mit einer Cola in der Hand. Viele taten es mir gleich und während sich die Reihen mehr und mehr füllten, waren die letzten Minuten vor dem Anpfiff bereits angebrochen.

Mit dem Kopf ins frühe Glück

Wieviele Bierleichen den etwa 800 Meter langen Weg vom Wasen zum Stadion nicht mehr gefunden haben, ist nicht übermittelt, dennoch wurde es gut voll. Auch den Gästeblock haben die Bremer gut gefüllt, an einem Samstagnachmittag aber auch keine besonders hohe Kunst – wenn man aus meinen Worten noch ein bisschen Restfrust vom Montagsspiel 2016 spürt, vermag das kein Zufall zu sein. Weiß und rot erstrahlte die Kurve, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste, dass sie gegen Ende der Partie so laut sein würde wie sonst lange nicht. Kurz nach halb vier rollte der Ball, es sollte unserer letzte Partie sein, in der der letzte Zweifel beseitigt werden musste.

Jedes Mal finde ich es seltsam, wenn die gewohnte Seitenaufteilung gewechselt wird und der VfB bereits in der ersten Halbzeit auf das Tor vor der Cannstatter Kurve spielt. So auch an diesem Tag, als wir dabei zusahen, wie Christian Gentner an der Seitenlinie vor der Gegentribüne einen Ball zurückgewann und ihn gleich nach vorne spielte. Einen Abnehmer fand er nicht, aber noch war der VfB im Ballbesitz und Emiliano Insua hatte auf der anderen Seite jede Menge Platz zum Flanken. Einen Simon Terodde gab es nicht mehr, der nur zu gerne seine Vorlagen verwerten konnte.

Instinktiv hielt ich die Kamera hoch, es hatte schließlich schon oft geklappt, genau den Moment des Tores abzupassen, wie schon beim letzten Heimspiel gegen Hannover, als Erik Thommy sehenswert getroffen hatte. Aber es war nicht der sympathische Neuzugang aus Augsburg, sondern niemand geringeres als der Kapitän, der sich der Ball quasi selbst vorgelegt hat. Noch beim letzten Mal hatte ich meine Freundin Jasi gefragt, wann Christian Gentner denn zuletzt getroffen hatte, nach 13 Minuten am 21. April 2018 hatte die Wartezeit ein Ende. Mit dem Kopf ins Glück, direkt vor den Augen einer entfesselten Kurve. Da war sie, die frühe Führung, die den VfB dazu befähigen sollte, weiter draufzugehen. Ganz aufgegangen ist das aber leider nicht.

Dunkle Erinnerungen

Ich kann der Mannschaft nicht ankreiden, so unmotiviert wie in den letzten Wochen agiert zu haben, denn das, was wir gestern sahen, war wirklich über weite Strecken ganz ordentlich. Dass sich im Spiel noch eklatante Fehler einschleichen und die Spiele des VfB nicht unbedingt zu den am schönsten aussehenden Partien gehören, müssen wir dabei in Kauf nehmen, solange es erst einmal nur um den Klassenerhalt geht. Auf kurz oder lang sind die Ansprüche des VfB Stuttgart andere, oder sollten es zumindest sein. Was nächste Saison passiert, wird spannend zu beobachten sein, aber in diesem Moment freute man sich einfach nur über das frühe 1:0.

Christian Gentner, der Maskenmann, mit dem Kopf. Dieser Blick in den Augen des Kapitäns, dieser verkniffene Gesichtsausdruck, an dem man ablesen kann, dass er sich am liebsten das Trikot vom Leib reißen will. Und da war sie wieder, die Erinnerung an Christian Gentners letztes Tor in der ersten Liga: es war das Führungstor vom Heimspiel gegen Mainz, das mit 1:3 verloren ging und für uns der fast sichere Abstieg feststand. Ein schlechtes Omen für diesen sonnigen Tag war das aber hoffentlich nicht, dafür sehnte ich den Moment des rechnerischen Klassenerhalts viel zu sehr herbei.

Bislang war die erste Halbzeit nicht schlecht, und doch fragte ich mich, ob das am Ende ausreichen würde. Gegen Hannover sahen wir immerhin bis in die letzte Minute der Nachspielzeit auch wie der sichere Sieger aus, bevor Niclas Füllkrug noch den Ausgleich machte. Immer wieder das gleiche Problem mit der Chancenverwertung: entweder man lässt sie sträflichst liegen oder man begnügt sich einfach wie so oft mit dem bisher erreichten, legt die Füße hoch und wundert sich dann, dass alles schief gegangen ist.

Auf der Suche nach neuen Impulsen

Es war zu früh, um sich zu überlegen, wie man nach der Partie den Klassenerhalt denn feiern würde, dafür kenne ich meine Pappenheimer einfach viel zu gut. Dass die Bremer im zweiten Durchgang als die aktivere Mannschaft aus der Kabine kamen, bestätigte meine begründete Vermutung, dass hier das letzte Wort noch nicht gesprochen ist. Ich wollte am Abend nicht wieder sagen müssen “Ich habs euch doch gesagt”, ich wollte mich nicht ärgern, dass man gegen willensstärkere Bremer das knappe Nachsehen hatte, ich wollte das alles nicht. Alles, was ich wollte, war der Klassenerhalt, je früher desto besser. Und dass dies nun sogar drei Spieltage vor Schluss gelungen ist, ist keine Selbstverständlichkeit, man rechnete schließlich nicht erst seit der Vorstellung von Tayfun Korkut mit dem schlimmsten.

Dass den Bremern nicht viel eingefallen war, machte es für uns rückwirkend betrachtet natürlich etwas leichter. So langsam ist es vermutlich kein Zufall, dass viele der Mannschaften, die sich auf den Weg nach Stuttgart gemacht hatten, ausgerechnet dann einen schlechten Tag erwischt hatten. Ich würde zwar nicht soweit gehen und sagen, dass Neckarstadion sei zur Festung geworden, aber – um es mit meinen Worten zu sagen – die Heimspiele waren bislang eigentlich weitgehend okay, aber auch hier bestätigen Ausnahmen die Regel. Besagte zwei Ausnahmen aus den letzten beiden Heimspielen ärgern mich dafür allerdings bis heute.

Im Laufe der zweiten Halbzeit verflachte die Partie, neue Impulse mussten her. Mit abwechslungsreichen, unvorhersehbaren Wechseln hatte sich unser Chefcoach bislang keinen Namen gemacht, nach einer Stunde bedeutet es oft, dass er Erik Thommy, zweifelsohne einen der besten auf dem Platz, runternimmt. Genauso wie es klar ist, dass Mario Gomez und Daniel Ginczek, die beide zuletzt Flaute hatten, bis zum Ende durchspielen während ein Anastasios Donis nicht mehr zum Zug kommt. Aber vielleicht ist auch ein Tayfun Korkut lernfähig und brachte zuerst nach knapp einer Stunde Berkay Özcan für Daniel Ginczek, zehn Minuten später Anastasios Donis für Erik Thommy und kurz vor dem Ende Marcin Kaminski für Mario Gomez (böse Zungen behaupten “Stürmer für Stürmer“).

Und wenn die ganze Kurve tobt

Wann immer die Cannstatter Kurve über sich hinaus wächst, vermag sie durchaus, einem Gänsehaut zu verschaffen. So auch heute, als das ganze Stadion seinen Anteil hatte, dass sich gefühlt ein jeder von seinem Platz erhob und die Mannschaft zum Sieg schreien wollte – auf eine Art und Weise, die ich in dieser Form in jüngster Vergangenheit nur selten im Neckarstadion erleben durfte. Wie mir erst kürzlich zugetragen wurde, spüren die Spieler das durchaus, wenn die Stimmung mal sensationell, oder auch mal weniger gut ist.

Vier Minuten Nachspielzeit blieben übrig, diese mussten wir noch unbeschadet überstehen. Ein langer Ball der Bremer in den Stuttgarter Strafraum, kalter Angstschweiß lief mir über den Rücken und erinnerte mich an den späten Ausgleich vor einer Woche. Heute sollte es aber anders werden. Statt dem Ausgleich war es ein Konter, den wir beobachten konnten und während ich mein rechtes Auge durch den Sucher meiner Kamera steckte und das linke Auge fest zukniff, konnte ich spüren, wie alle ganz angespannt in Richtung Untertürkheimer Kurve blickten. Unablässig presste ich meinen Zeigefinger auf den Auslöser und sah das erlösende 2:0 durch den Kamerasucher. Klick. Klick. Klick. Klick. Oops, I did it again.

Beim ersten Tor habe ich mich mäßig gefreut, schließlich hatte der VfB ja noch genug Zeit, es wieder zu versauen, doch beim zweiten Tor gab es dann kein halten mehr. Als das Bild im Kasten war, schrie ich, so laut ich nur konnte. Es kam einer Erlösung gleich und ich gehe davon aus, dass es ganz vielen genauso erging. Dieses Mal vertändelten sie die Führung nicht, dieses Mal machten sie das zweite Tor, wenn auch sehr spät. In der Kurve wurden daraufhin die Schals ausgepackt und in unseren Ohren klang das gleiche Lied, welches uns durch die Aufsstiegssaison getragen hat: Wenn du mich fragst, wer Meister wird. Oder auch: wer 2017/2018 nicht absteigt. Das war enorm wichtig.

Ein fast perfekter Spieltag

Alles, was wir nun nur noch tun mussten, war warten. Warten auf die letzten paar Sekunden der Nachspielzeit. Warten auf die Mannschaft, bis sie mit uns feiern kann. Warten auf das Ende der Saison, um uns dann ein bisschen zu entspannten. Und auch das Warten auf die neue Saison, deren Planungen nun jetzt schon beginnen können, so früh wie seit Jahren schon nicht mehr. Das hatten sie gut gemacht, die Jungs, auch wenn wieder kein Schönheitspreis nach Stuttgart vergeben werden konnte. Uns machte das nichts, als wir Arm in Arm mit der Mannschaft zum Takt von Achtzehnhundertdreiundneunzig hüpften. Das war der rechnerische Klassenerhalt, ein wichtiger Moment.

An meinem inneren Auge rauschten kurz jene Spiele der Rückrunde vorbei, die dazu beigetragen haben, wie die Siege gegen Gladbach, Köln und Freiburg. Ohne diese Punkte würden wir bis zum Schluss ums nackte Überleben kämpfen. Lediglich eine Sache vermochte die gute Laune doch noch etwas zu trüben: der HSV hatte zeitgleich in zuhause gegen Freiburg gewonnen. Das kann einem VfB-Fan zwar im Grunde herzlich egal sein, doch die Häme und der Spott der Hamburger bei unserem Abstieg habe ich bis heute nicht vergessen. Wenn sie sich am Ende wieder durchmogeln, vielleicht sind sie dann wirklich unabsteigbar.

Die meisten zog es nach dem Abpfiff in Richtung Wasen, für so manchen nicht das erste Mal an diesem sommerlichen Apriltag. Ich für meinen Teil kaufte mir zwei Flaschen Bier, ein Eis und setzte mich mit einem Lächeln auf die Couch vor den Fernseher, genoss die Sportschau und setzte mich danach an meine Bilder. Das Gefühl des Klassenerhalts ist ein großartiges, auch wenn der Weg dahin teilweise steinig war. Tayfun Korkut hatte offensichtlich die richtigen Impulse setzten können, dass es überhaupt soweit kommen musste, bedaure ich dennoch. Und irgendwo saß gestern ein Hannes Wolf, setzte ein breites Lächeln auf und freute sich für den VfB Stuttgart. Bis heute wünschte ich, er wäre derjenige gewesen, den wir gestern hätten feiern können.