Bunt. Schrill. Dramatisch. Emotional. Dieses Spiel war alles außer langweilig. Dass wir am Tag danach darüber schmunzeln können, haben wir einer gehörigen Portion Glück zu verdanken. Schon in der vergangenen Rückrunde hatten wir bisweilen erstaunt feststellen müssen, dass Siege manchmal dreckig und unverdient geholt werden müssen, am Ende fragt niemand danach, wie die Punkte zustande gekommen sind. Auch heute fragen wir uns, wie das eigentlich gehen konnte – unterlegen gegen eine Mannschaft, die mit einem Mann weniger spielte. Es ist so viel Absurdes passiert, man sollte meinen, diese Zeilen schreiben sich einfacher als die letzten Male. Ganz so einfach ist es dann aber doch nicht.

Hinterher würden sie wohl alle das selbe schreiben. Die Gäste waren drückend überlegen, selbst in Unterzahl, hätten das Spiel zwingend gewinnen müssen – und ja, da war noch die Sache mit Ron-Robert Zieler. Eigentlich eine nette Sache, wenn ein VfB-Spieler in jedem Jahresrückblick vorkommen wird, so hatte ich das aber nicht gemeint. Den drei Punkten war es nicht abträglich, darauf verzichten hätten wir allerdings auch können. Schon alleine für unser aller Nervenkostüm.

Nach fünf sieglosen Bundesliga-Spielen und dem frühen Pokal-Aus sollte nun endlich das nötige Erfolgserlebnis her, aber wie sollte das gelingen gegen Bremer mit Rückenwind, denen im Falle eines Auswärtssieges die Tabellenführung winkte? Alle Vorzeichen standen gegen uns. Vor dem Spiel. Während dem Spiel. Nach dem Spiel. Der VfB hat nun drei Punkte mehr, hat aber einige Baustellen derart offensichtlich bloßgestellt, dass man sich fragt, was in der Vorbereitung gemacht wurde. Die Mannschaft vorzubereiten machte uns bisweilen nicht immer den Eindruck.

Vermeintlich unvermeidbar

Nach der Pleite in Leipzig waren sich viele schon sehr sicher: würde der VfB erneut nicht gewinnen, würde Tayfun Korkut seinen Trainerposten räumen müssen. Kein unwahrscheinliches Szenario, schaut man sich a) die aktuelle Tabellensituation an und b) die Trainerverschleißstatistik der letzten zehn Jahre. In der Rückrunde waren es die vielen Siege, die vielleicht darüber hinwegtäuschten, dass Gewinnen nicht das einzige ist, was einen Trainer ausmachen sollte. Weiterentwicklung ist hier das entscheidende Zauberwort, bleibt das aus, bleiben auch irgendwann die Siege aus und man steht schlechter da als je zuvor.

Ob Tayfun Korkut nach diesem turbulenten Spiel trotzdem gut schlafen kann, ist ungewiss. Aus dem Schneider sind wir noch lange nicht, dafür hat die Partie gegen die Bremer zu viele Schwachstellen offen gelegt, von der Spielidee bis hin zur grundsätzlichen Fitness. Man hat ein schlechtes Spiel gegen eine Mannschaft in Unterzahl abgeliefert, nur glücklich gewonnen, Ausdauermängel offenbart und schlussendlich zwei Spieler durch Verletzungen verloren. Und dennoch fühlt es sich trotz allem gut an. Dieses Gefühl des Sieges, dieses dreckigen, unverdienten und beinahe schon lächerlichen Sieges. Wie sehr haben wir das gebraucht?

Kommt der September, kommt auch immer der Wasen. Für trinkfeste Zeitgenossen und Freunde der Schlager- und Gassenhauermusik die schönste Zeit im Jahr, für Bahnpendler ein immer wiederkehrender Alptraum. Am Freitag wurde das erste Fass angestochen zum 173. Cannstatter Wasen und so pilgerte eine unfassbare Menschenmasse aus allen Richtungen nach Bad Cannstatt. Ein absoluter Verkehrskollaps, sowohl für die Straßen als auch für die Schienen. Nicht wenige werden an diesem Spieltag im Festzelt zwischen Lederhose, Dirndl und Volksmusik vorgeglüht haben. Auch ich hatte das einmal gemacht, es war ein Heimspiel gegen Werder Bremen, der VfB verlor mit 0:2 und ich hatte danach ziemliches Kopfweh.

Willkommen beim Cannstatter Chaos Club

Noch bevor ich durch die Eingangskontrolle marschierte, erreichte mich die Info eines Fotografen-Kollegen: eine Chaos Choreo sollte es geben. Ich liebe Choreos, ohne jede Frage, aber Chaos Choreos haben immer etwas Besonderes für sich. Dieses bunte Durcheinander hat durchaus etwas für sich, vom Konfetti bis zum Luftballon. Weit weniger erhoffte ich mir von der Partie, die für mich unter keinen guten Vorzeichen stand. Und auch jetzt, einen Tag danach, weiß ich, dass dieses Gefühl nicht von ganz ungefähr kam.

Man war schon fleißig am Verteilen, als ich meinen Platz in der Kurve einnahm. Wasserballons, Fahnen und Doppelhalter, alles, was brauchbar war (also alles) wurde ausgelegt und verteilt. Zehn Sekunde des Herunterzählens, die Kamera in Position gebracht, den Fokus eingestellt, sofern das überhaupt möglich war, und einfach abgedrückt. Auf “Null” kamen gefühlte tonnenweise weißes und rotes Konfetti, alle Fahnen in Bewegung, wohin das Auge reichte sah man Luftballons und Wasserbälle, die wie wild umhergeschlagen wurden und OH GOTT sind das Riesenballons? Hier war was los.

Mit einem Schmunzeln auf den Lippen konnte ich mir schon denken, welchen mengenmäßigen Anteil die Choreofotos in der späteren Bildergalerie haben würden – auch, wenn das für mich einen langen Abend bedeuten würde. Der Ball rollte unter dem rhythmischen Platzen der Luftballons und es hätte die wenigsten verwundert, wenn Werder gleich die erste Chance der Partie nach nur zwei Minuten auch schon genutzt hätte. Es würde ins Bild passen eines vollkommen verunsicherten VfB. Noch ahnte keiner der 58.569 Zuschauer, was wir alles noch erleben würden.

Mit feinem Füßchen ins Glück

Erinnert ihr euch noch an den Zuckerpass von Benjamin Pavard in den Lauf von Carlos Mané? Natürlich erinnert ihr euch, wer kann dieses Heimspiel gegen Fürth in der zweiten Liga jemals vergessen. Dieser hier war fast ähnlich schön, aber auch nur fast. Daniel Didavi, mit dessen Rückkehr ich mich noch immer schwer tue, nahm sich ein Herz und schickte Anastasios Donis auf die Reise. Das ging mir zu schnell, ich hatte noch nicht einmal die Kamera auf das Tor gehalten, noch war sie auf die Kurve gerichtet. Einmal den Ball vorgelegt, vorbei am Torwart und hineingeschoben ins leere Tor. Da spielt der Kerle mal von Beginn an und vollstreckt ähnlich bezaubernd wie einst im Mai. Wundervoll.

Schon stand es 1:0, aber der VfB wäre nicht der VfB, wenn er daraus nicht noch etwas ganz furchtbares machen könnte. Der nächste Treffer musste her, denn Bremen hatte die Partie sonst weitgehend im Griff – nicht wir, die Bremer. Dass nach 36 Minuten einer von ihnen vom Feld musste, spielte uns vortrefflich in die Karten. Zumindest dachten wir das noch in dem Moment, als Milos Veljkovic nach seiner gelb-roten Karte vom Feld schlappte. Vielleicht klappt es ja heute doch mit dem ersten Saisonsieg?

Schon zur Halbzeitpause spiegelte das Ergebnis nicht den Spielverlauf wieder. Dennoch kannten die meisten in der Pause nur ein einziges Thema, nämlich “Wie unfassbar geil ist eigentlich Donis?”. Das meint auch mein Kumpel Sascha, so wie viele andere auch. Ein schneller Antritt, eiskalt vor dem Tor und dennoch unter Tayfun Korkut nicht gesetzt. Wieviele Tore muss er noch machen, bevor er von Beginn an spielen darf? In den durchschnittlichen zehn Minuten, die ihm in den vorherigen Partien zugestanden wurden, konnte auch er bislang nicht das Ruder herumreißen. Anastasios ist einfach besonders, eben anders als der Rest.

Ein Fall für jeden Jahresrückblick

Die Kurve war fantastisch aufgelegt, trieb die Mannschaft immer wieder nach vorne und spürte schon früh, dass das Team das auch nötig hatte. Werder drückte und drückte, eine ungewohnte Situation in Unterzahl. Der VfB hatte einen Mann mehr auf dem Feld, hatte aber deutlich mehr Probleme, das Spiel zu gestalten und den Ball vom eigenen Strafraum fernzuhalten. Mehrmals parierte Ron-Robert Zieler großartig, einmal war der Pfosten dem Ausgleich im Weg. Mit zunehmender Spieldauer sollte das doch eigentlich irgendwie anders laufen, nicht wahr? Dass auch noch unser viel geschätzter Torschütze Anastasios Donis auch noch verletzungsbedingt rausmusste, machte die Situation nicht besser.

Gut 22 Minuten reguläre Spielzeit hatte der VfB noch zu überstehen und sollte endlich das zweite Tor nachlegen. Stattdessen bekamen wir etwas, auf das uns niemand hätte jemals vorbereiten können. Wen ich auch fragte, keiner hat die Szene richtig mitbekommen und sah sie erst später in der Sportschau oder als eines der vielen GIFs, die sofort im Internet die Runde machten und sich köstlich über den VfB amüsierten.

Ein Einwurf der eigenen Mannschaft ist normalerweise nichts schlimmes, deswegen hat vermutlich auch niemand so recht hingesehen. Borna Sosa, einer unserer jungen Frischlinge, die im Sommer zu uns kamen, führte den Einwurf aus, direkt auf Ron-Robert Zieler, der aber aufgrund des Bremer Wechsel-Theaters den Pfiff nicht mitbekam und sich in aller Seelenruhe die zartrosanen Schuhe band. Als er den auf ihn zukommenden Ball bemerkte, wollte er ihn noch stoppen und machte das Problem damit nur noch größer. Mit dem Berühren des Balles entstand eine neue Spielsituation, der Ball trudelte ins Tor, aller Bremer waren aus dem Häuschen und kaum ein VfB-Fan hat wirklich mitbekommen, was vorgefallen war.

Endlich nachgelegt

Dass nach diesem lächerlichen Fauxpas das Spiel nicht noch gedreht wurde, war das einzig Positive gestern. Als klar gewesen ist, dass der Treffer zählt und wir zuschauen mussten, nicht doch noch zu verlieren, bekam auch die Stimmung im Stadion einen gewaltigen Knick. Nicht nur, da man in Überzahl unterlegen war und den Spielern langsam die Puste auszugehen schien, auch weil man sich völlig unnötig selbst ein Ei ins Nest gelegt hat, und was für ein dämliches noch dazu.

Sieben Minuten später war das Eigentor zwar nicht vergessen, aber es war – jedenfalls vorübergehend – egalisiert. Mit dem Finger auf dem Auslöser hielt ich die Kamera aufs Tor, als Gonzalo Castro auf rechts zum Abschluss kam. Sein erstes Tor für den VfB, ein immens wichtiges noch dazu. Was. Zur. Hölle. Eskalation auf den Rängen, von der Kurve bis zur Haupttribüne. Wieviel Glück kann man in einer Partie haben?

Und immernoch war das Spiel nicht vorbei. Ein Fan neben mir wandte mir den Kopf zu und keuchte “Das machen die doch mit Absicht!”, vielleicht hatte er da sogar Recht. Der Irrsinn ging weiter und spitzte sich zu einem wahren Drama zu – nicht, dass es das nicht schon vorher war. Immer wieder rannte der VfB an und vergab beste Chancen, darunter bestimmt drei oder vier Mal von unserem jungen Nicolas Gonzalez, aber auch Bremen kam immer wieder zum Abschluss. Wo sind die verdammten Baldrian-Tropfen, wenn man sie mal braucht?

Vom Nervenflattern und Feingefühl

Nicolas Gonzalez hatte alleine schon genug Chancen, um zwei oder drei Spiele zu gewinnen, immer knapp gescheitert vor dem Tor. Mit jedem vergebenen Hundertprozentigen wuchs die Ungeduld der Kurve ins Unermessliche, der VfB hatte genug Möglichkeiten, den Sack zuzumachen und tat es aber nicht. Was, wenn Bremen noch eins macht? Vier Minuten Nachspielzeit. Keiner hatte noch Ruhepuls in den letzten Sekunden. Für ein krummes Ding ist ein Pizarro doch immer gut gewesen, dunkle Gedanken, die ich gar nicht haben wollte. Tick. Tack. Tick. Tack.

Und dann war es überstanden. Borna Sosa lief direkt zu Ron-Robert Zieler und entschuldigte sich, während einsam und alleine ein Nicolas Gonzalez für sich alleine trauerte. Seine Tränen blieben nicht unentdeckt, weder von seinen Mitspielern, von Michael Reschke und vor der Cannstatter Kurve. Nachdem die Mannschaft bereits in Richtung Kabine trabte, riefen wir seinen Namen, laut und immer wieder. Da drehte er sich um und wurde mit einem Klaps von Mario Gomez wieder zurück in die Kurve geschickt. Eigentlich ist es nicht alltäglich, einen Spieler zu feiern, der mehrere hochkarätige Torchancen vergab, doch das Feingefühl der Cannstatter Kurve überrascht selbst mich immer wieder. Vielleicht ist auch diese Kurve einfach anders als der Rest.

Die Kurve leerte sich und gab den Blick frei auf unfassbare Mengen von weiß-rotem Konfetti. Die letzten Fahnen wurden eingesammelt und ausnahmslos jeder musste das Gesehene erst einmal verarbeiten. Was für ein dramatisches Spiel war das denn bitte? Langsam liefen wir hinaus und genossen die letzten warmen Sonnenstrahlen des Samstags. Heute hatten wir mehr Glück als Verstand, gegen angeschlagene Hannoveraner, die dringend einen Aufbaugegner brauchen, wird das alleine nicht reichen. Ich war mir sicher, der VfB würde nicht gewinnen und ab morgen einen neuen Trainer haben. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es in Hannover nicht einfach wird. Ich bin mir noch nicht einmal sicher, ob ich beim nächsten Spiel vor Ort sein möchte. Aber ich bin mir sicher, dass sich ein Sieg gut anfühlt – völlig egal, wie dreckig, unverdient und lächerlich er auch zustande kam.

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