Die Botschaft war kurz, aber sie war eindeutig. In einem ohrenbetäubenden Lärm schallte es ihnen entgegen: “Kämpfen oder gehen”. Danach kehrten sie uns den Rücken, nur um dafür noch lautere Pfiffe zu bekommen. Betrachtet man die aktuelle Situation genauer, könnten einem glatt die Tränen kommen. Der VfB liegt in Trümmern und wir müssen dabei zusehen. Aus der anfänglichen Attitüde, der VfB würde ohnehin immer die ersten Spiele versemmeln, bevor er einigermaßen in die Spur kommt, wurde allmählich die finstere Gewissheit, dass es vielleicht nicht zu mehr reichen könnte, als das, was gerade vor uns liegt. Frustration. Ratlosigkeit. Verzweiflung.

Beinahe überall, wo man hinschaut, klemmt und hakt es. Viel gibt es nicht, das einem jetzt noch Hoffnung macht. Allenfalls, dass die Saison noch eine Weile geht und dass einmal mehr die Cannstatter Kurve in ihrer wohl finstersten Stunde der Saison noch ein Stück enger zusammengerückt ist. Aber sonst? Ich sehe eine Mannschaft, die vollkommen verunsichert ist und nichts mehr auf die Kette bekommt. Ich sehe einen katastrophalen Fitnesszustand der Spieler, von denen man noch vor einigen wenigen Monaten dachte, es könnte mit diesem Kader fürs Mittelfeld durchaus reichen. Ich sehe einen Trainer, der zweifelsohne bemüht ist, aber das Erfolgserlebnis mit der Mannschaft einfach nicht hinbekommt. Ich sehe schwarz.

Ich wünschte, das wäre nur wieder eine meiner überängstlichen Phasen, in denen ich oft sagte, so würde man absteigen. Die Realität hat uns alle eingeholt. Die Moral des Teams ist gebrochen und es wird eine unfassbar schwierige Aufgabe sein, die hängenden Köpfe wieder aufzurichten. Es ist nicht so, dass man das Ergebnis in dieser Höhe nicht hätte voraussagen können – mit welcher Wucht es uns getroffen hatte und in welch desolatem Zustand sich die Protagonisten im roten Brustring präsentierten, hat einen auf allen Ebenen einfach nur erschreckt. Niemand von uns dachte wirklich, dass wir eine sorglose Saison haben könnten. Aber nicht einmal ich hätte gedacht, wie schlimm es um den VfB wirklich bestellt ist.

Nur nicht aufregen – oder doch?

Was bleibt, ist mein verzweifelter Versuch, nach Jahren des Dauerfrusts solche Situationen nicht mehr so nah an mich heranzulassen. Es gibt nichts, was ich persönlich daran ändern kann, das zu verstehen hat viele Jahre gedauert. Das zunehmende Abstumpfen nimmt seinen Lauf, und auch, wenn ich es nicht an mich heranlassen wollte, zu sehen, wie die Mannschaft sekundenlang gebrochen vor der Kurve verharrte und sich niederpfeifen ließ, das verlangte doch mehr Beherrschung als ich zugeben könnte. Im einen Moment denkst du, dass es trotzdem immernoch Menschen sind, im nächsten Moment fragst du dich aber wieder, wie genau diese Personen es soweit überhaupt haben kommen lassen.

Es war nicht das Pech, die eine oder andere Fehlentscheidung, oder schwere Verletzungen, die uns hier her gebracht haben. Es war das blanke Unvermögen und die einmal mehr zu oft bemühte Ausrede, warum man erneut ohne Punkte dasteht. In Mainz muss man nicht gewinnen. Das Bayern-Spiel muss man eh ausklammern. Düsseldorf ist der stärkste Aufsteiger aller Zeiten. Dortmund hat ohnehin einen Lauf. Dass man gegen keine der Mannschaften unter die Räder kommen muss und Punkte liegen lässt, beweisen jede Woche andere Vereine in der Bundesliga. Hat man noch immer nicht begriffen, dass es bereits längst nach Zwölf ist?

Später würde man lediglich davon berichten, dass im Neckarstadion wüst gepfiffen wurde, dass weite Teile der Tribünen ihren Platz bereits lange vor Abpfiff verlassen hatten und dass die Kurve teilweise der Mannschaft ihren Rücken zukehrte. Etwas anderes passt schließlich nicht ins Bild des schwierigen Umfelds, das Außenstehende immer wieder in den Medien skizzieren. Dass wir in den letzten Jahren genug Scheiße fressen mussten und die Kurve trotz allem immer Vollgas gegeben hat, findet in all diesen Berichten keine Erwähnung. Genauso wenig an diesem Wochenende, als der Kurve angesichts der erschütternden Situation nichts anderes übrig bleibt, als das einzige zu feiern, was einem noch geblieben ist: der Zusammenhalt einer einzigartigen Kurve.

Auf der Suche nach einem Wunder

Die geschätzten Kollegen vom Vertikalpass hatten es in einem ihrer heute veröffentlichten offenen Briefe bereits formuliert: “Lieber Markus Weinzierl, Sie sind die ärmste Sau.” Der Karren steckte bereits im Dreck, als er vor einigen Wochen das Amt von Tayfun Korkut übernahm, mit zwei der denkbar schwersten Spiele vor der Brust, Dortmund und Hoffenheim. Null zu acht Tore. Und dann gegen Frankfurt, dem nächsten Brocken, bei dem aktuell der Rotz die Backe hochläuft. Null zu elf Tore. In drei Spielen. Nur fünf Punkte. Nach zehn Spieltagen. Zum Vergleich: in der Abstiegssaison hatte man zwei Punkte mehr und zehn Gegentore weniger.

Es braucht viel Fantasie, um sich vorzustellen, wie man das wieder umbiegen soll, wenngleich es noch zu früh ist, den VfB abzuschreiben. Bei den Kölnern hat diese Erkenntnis schließlich auch sehr lang gedauert. Wenn der VfB schnell anfängt zu punkten und in der Winterpause die massiven Fitnessdefizite wieder aufholt, ist noch längst nicht alles verloren. Das Problem ist nur: wo sollen die Punkte denn jetzt noch herkommen? Wo soll das Erfolgserlebnis denn geholt werden? Gegen Nürnberg, die am Samstagnachmittag mit enormen kämpferischen Einsatz in der zweiten Halbzeit ein Remis in Augsburg geholt haben? Oder doch eher gegen Leverkusen, deren individuelle Klasse mehr als einmal zum Problem für den VfB wurde?

Wo soll sie denn auf einmal herkommen, die Hoffnung, dass am Ende doch noch alles gut wird? Ich spreche damit nicht als die eine, die immer sofort gesagt hat, dass alles schief laufen wird. Aber ich spreche als eine von vielen, die spätestens seit gestern sprachlos sind. Der eine Teil der VfB-Fans hatte es wahrscheinlich kommen sehen, der andere Teil hoffte auf das Wunder von Cannstatt (vielleicht wie letztes Jahr gegen Dortmund). Ich für meinen Teil sagte noch zu meiner Freundin Jasi neben mir, ich hätte schon ein bisschen Angst, kurz bevor die Mannschaften das Spielfeld betraten. Gegen Rebic, Jovic und Haller braucht es mehr als ein Wunder, um diese im Zaum halten zu können. Aber wer am Boden liegt, der tut sich schwer mit Wundern.

VfB Stuttgart, das sind wir!

Am meisten leid tat es mir für meinen guten Freund Thibault. Dass er sich kürzlich ausgerechnet das Heimspiel gegen Düsseldorf ausgesucht hatte, um die Reise aus Belgien auf sich zu nehmen, wollte er mit dem Heimspiel gegen Frankfurt wiedergutmachen. Schon lange vor dem Anpfiff verlor ich ihn aus den Augen, hineingestürzt ins Getümmel der Cannstatter Kurve, deren Ruf auch dann noch lange nachhallen wird, wenn die Erinnerung an das Fußballspiel schon längst verblasst ist. Thibault erinnert mich an mich selbst, wie ich in den ersten Jahren meines Fandaseins hunderte von Kilometern für ein Heimspiel hinter mich brachte und eine Niederlage im Neckarstadion mir beinahe das Herz aus dem Brustkorb gerissen hatte. So viel Aufwand für nichts, ich kenne dieses Gefühl zu gut. Doch da war nicht “Nichts”. Da war trotzdem diese eine Kurve.

Für jemanden, der das Spiel im Fernsehen oder auch gar nicht verfolgt hat, für jene, die auf der Untertürkheimer Kurve Platz genommen hatten, für all jene war es schwer vermittelbar, welcher Funke es an diesem Freitagabend war, der dafür gesorgt hat, dass nicht alles in Verzweiflung endet. Die Eintracht führte 2:0 und uns vor, nach allen Regeln der Kunst. Ein auch letztlich in der Höhe verdientes Ergebnis, ohne jede Frage. Dass es soweit schon gekommen ist, dass wir uns von einer Mannschaft am Nasenring durch die eigene Arena ziehen lassen, wo Fredi Bobic das sagen hat und Filip Kostic ein Teil der Mannschaft ist, das ist schon hinreichend schwer zu ertragen.

Doch es waren die Worte unseres Vorschreiers, die uns daran erinnerten, wofür wir eigentlich hier sind. Nicht für die Spieler, die es nicht schaffen, die notwendigen Punkte zu holen, sondern letztlich nur für uns selbst. Wir sind die Cannstatter Kurve, vom hartgesottenen Ultra bis hin zur neigschmeckten Fanfotografin, von der ersten Reihe des Stehblocks bis zur letzten Reihe des Oberrangs. Unsere Leidenschaft hat uns groß gemacht und diese Leidenschaft soll es nun sein, die wir niemals vergessen dürfen, so finster die sportliche Situation auch aussehen mag. Schon lange hallte es nicht mehr so laut wie an diesem Abend: “VfB Stuttgart, das sind wir!”.

Was am Ende übrig bleibt

Was die Medien später als die Abkehr der Fans von der Mannschaft bezeichnen würden, war ein phänomenaler Wechselgesang zwischen Unter- und Oberrang. Solche Kulissen haben es nicht verdient, mit einer derartigen sportlichen Leistung quittiert zu werden. Schon früh ergab sich die Mannschaft in ihr Schicksal, ließ Frankfurt gewähren und hoffte das gleiche, wie auch die meisten Fans, dass es nicht so schlimm werden würde. Die lähmende Ratlosigkeit auf dem Reisen trieb die Menschen von ihren Sitzen zurück nach Hause, massenweise setzten sich die Zuschauer in Bewegung. Wer blieb, widmete die Aufmerksamkeit dem einzigen, was es wert war, gesehen zu werden.

Von all der Stimmung kann sich der VfB natürlich nicht viel kaufen. Eine weitere herbe Niederlage auf dem Kerbholz und keiner weiß, wie es weitergeht. Was ist, wenn der VfB auch in Nürnberg nicht gewinnt, oder sogar noch verliert? Könnte man dann sogar Markus Weinzierl verstehen, wenn er den schlimmsten Start eines Trainers aller Zeiten hinter sich lässt und hinschmeißt? Für manche ein undenkbares Szenario, aber was ist bei diesem Verein schon undenkbar. Ich will, dass er es schafft. Ich will, dass der VfB punktet, sich berappelt, besser wird, die Klasse hält, und sich stetig positiv entwickelt. Darf man das als Fan etwa nicht mehr hoffen?

Es war still, als sich die letzten verbliebenen Stadionbesucher auf den Weg machten. Zwischen all den hängenden Köpfen waren stets die gleichen Aussagen zu vernehmen, keine von ihnen war, man wäre sicher, der VfB würde sich schon bald wieder fangen. In diesen Tagen ist es nicht leicht, das alles zu verarbeiten, Verdrängung ist auch nicht immer die beste Wahl. Was bleiben wird, sind die Worte des Vorschreiers. Wenn alles im Chaos versinkt und die Zeiten nicht dunkler sein können, können wir uns immernoch auf den Zusammenhalt untereinander verlassen. Das ist die Cannstatter Kurve. Und für mich persönlich noch ein weites Umfeld lieb gewonnener Menschen. Es gibt so viel Größeres als das Spiel an sich. An einigen Tagen vergesse ich das manchmal.

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