Es gibt Tage, da will ich in den Dingen mehr sehen, als sie eigentlich sind. Dann sehe ich in einem einzigen Spiel den Moment des Umbruchs, den Funken der Hoffnung, das verheißungsvolle Zeichen einer besseren Zukunft – oder auch das bittere Ende einer erfolgreichen Phase, das Vorüberziehen von Möglichkeiten, das Versagen im wichtigsten Augenblick. Es gibt aber auch Tage, da will ich nicht mehr sehen als das, was es eigentlich ist: eine Momentaufnahme. Drei Punkte. Nicht mehr, nicht weniger.

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Ein enorm wichtiger Schritt in Richtung Klassenerhalt, nachdem die Konkurrenz beinahe durch die Bank weg Federn gelassen hatte und für den VfB spielte, was für gewöhnlich heißt, dass nur der VfB nicht für den VfB spielt. Vor einigen Tagen noch saß ich mit Freunden im Maulwurf, einer urigen Kneipe am Schillerplatz in Stuttgart-Vaihingen, da begegneten mir diese beiden Worte erneut. Wenige Tage zuvor erst gelesen, nun wieder heraufgeholt zwischen Radler und Craft Beer, stellvertretend für das, was vor zwei Wochen geschehen war und dessen mentale Auswirkungen längst über das gewohnte Prozedere eines Trainerwechsels hinaus geht: “Emotionaler Knick”.

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Ansgar kenne ich schon seit geraumer Zeit von Twitter, er traf mit diesen Worten einen ungeahnten Nerv in mir. Was sich im Zuge des Trainerwechsels bereits wie ein potenzieller wichtiger Punkt in meinem Leben anfühlte, wurde langsam Realität. Ich distanziere mich. Nicht komplett, das könnte ich nicht, aber es reichte aus, um freiwillig auf das Auswärtsspiel in Wolfsburg zu verzichten, ganz ohne Not, zum ersten mal nach fast sechs Jahren Allesfahrerei. Ich blieb zuhause, denn die Geschehnisse der letzten Tage zuvor hatten mich müde gemacht und das, was ich am meisten fürchtete, die Missachtung meiner Freunde und Wegbegleiter, sie blieb aus. Stattdessen hörte ich stets die selbe Antwort: “Kann ich verstehen”.

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Am Ende

Wirklich vermisst habe ich den Trip nach Niedersachsen nicht. Dass es mich mit einem betrübten Gefühl zurücklässt, kann ich allerdings nicht verneinen, hat der VfB doch nun 100% seiner Auswärtspunkte ohne mein Beisein geholt und nach vergeblichen fast zehn Jahren der Auswärtsspiele in Wolfsburg zum ersten Mal gepunktet, etwas, was mir bisher nie vergönnt gewesen ist. Und dennoch habe ich richtig entschieden, denn das abscheuliche Gefühl des Abgrunds hätte ich bei einer erwartbaren Auswärtsniederlage kaum verkraften können.

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Der Verein ist gefühlt am Ende und der Schaden, den die Anhänger seit dem Herbst 2016 genommen haben, ist weit größer als der Klubführung bewusst ist. Ein egozentrischer Präsident, eine nicht mehr rückgängig zu machende Ausgliederung, ein planloser Sportdirektor und ein völlig irrsinniger Trainerwechsel haben den Verein dort hingeführt, wo er heute ist. Laut Bernd Wahler 2013 sollte das eigentlich die Champions League sein, ist aber in Wahrheit nur ein weiterer bitterer Offenbarungseid einer fehlgeleiteten Entwicklung und egoistischer Persönlichkeiten auf vielen Ebenen.

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Die Leidtragenden sind letztendlich wir Fans, denn wir können uns den Verein nicht einfach aussuchen. Dass ausgerechnet jetzt eine Debatte darum entbrennt, ob man nur dann ein guter Fan ist, wenn man klaglos alles hinnimmt, was einem der Verein zum Fraß vorwirft, passt in die Zeit einer vom Weg abgekommenen Realität. Ich habe mich am Sonntagmittag auf den Weg zum Stadion gemacht, kann aber auch all jene verstehen, die sich entschieden haben, das nicht zu tun. Seit ewigen Zeiten gab es nicht mehr so viele Dauerkarten im Zweitmarkt wie vor dem Heimspiel gegen Borussia Mönchengladbach. Viele haben ihre Konsequenzen daraus gezogen und entschieden, den Kurs der Vereinsführung nicht mehr mitzutragen. Dass die Vereinsführung das herzlich wenig kümmert, steht auf einem anderen Blatt.

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Im Grunde unwichtig

Mit einem befremdlichen Gefühl sperrte ich hinter mir die Tür zu, verließ das Haus und machte mich auf den Weg zum Neckarstadion, so wie bei jedem Heimspiel. Seit dem 12. April 2009 habe ich nur ein Heimspiel verpasst, ziemlich genau sechs Jahre ist es her und war einer Knie-Operation geschuldet. Bis auf dieses eine Mal war ich in den letzten Jahren immer hier, habe geschrien, gelacht, geweint, gehofft und geflucht. Aber heute? Eine seltsame Anwandlung der Gleichgültigkeit hatte sich in mir breit gemacht, ist es doch nicht der VfB, der mir im Moment das Wichtigste ist, sondern die vollständige Genesung meines geliebten Schwiegerpapas. Wie schnell Dinge unwichtig werden können, die gerade noch zu den wichtigsten Dingen auf der ganzen Welt gehörten, hatte ich nicht für möglich gehalten.

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Ist der Zeitpunkt des Umdenkens gekommen? Ich freute mich auf ein Wiedersehen mit meinen Freundinnen und Freunden, vermochte darüber hinaus kaum Vorfreude für das Spiel an sich zu entwickeln. Es ist fast so, als leide ich am Fußball-Burnout, sofern es so etwas gibt. Es war so viel von alledem in den letzten Jahren, immer bin ich stark gewesen, immer engagierte ich mich und es gab sogar einmal eine Zeit, in der mir all das noch Freude bereitet hatte. Ob der VfB nun gewinnt, unentschieden spielt oder seine Talfahrt weiter fortsetzt, nun, es war mir zwar nicht gänzlich egal, aber der Gedanke daran zermürbte mich nicht mehr wie vielleicht noch zwei Wochen zuvor.

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Die Entlassung von Hannes Wolf hat Gedankengänge in Wallung gebracht, auf die ich vielleicht tief in mir drin gewartet hatte. Manche mögen das als die wirren Worte eines frustrierten Fans definieren, andere wiederum erkennen darin den Wunsch danach, aus dem Hamsterrad auszusteigen. Beinahe schon teilnahmslos registrierte ich das Treiben um mich herum, winkte meinem von seiner Familie begleiteten Kumpel Stephan auf dem Oberrang der Haupttribüne zu und fragte mich, wieviele Plätze im Neckarstadion heute leer bleiben würden. Der Gästeblock war gut gefüllt, das ist er meist, wenn die Borussia vom Niederrhein antritt, verfügt sie doch über ein dichtes Geflecht an Sympathisanten aus Süddeutschland.

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Not gegen Elend

Der Spieltag schien fast wie gemalt für den VfB. Köln hatte verloren. Hamburg hatte verloren. Mainz hatte verloren. Freiburg hatte verloren. Ein Fan jedes anderen Vereins würde dies als Zeichen interpretieren, gerade heute alles in die Waagschale zu werfen. Als Fan des VfB rollen sich die Fußnägel auf, eiskalter Schweiß rinnt den Rücken hinunter und hinter zusammengepressten Zähnen entfleucht einem etwas wie: “Gerade dann klappts erst recht nicht”. Man muss gar nicht so weit in der Geschichte zurück um dem Verein, der in den letzten zehn Jahren nahezu sein komplettes Gesicht geändert hat, den notwendigen Charakter für solch präkere Situationen abzusprechen. Und nicht selten bleibt der Pessimist im Recht.

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Der Borussia ging es indes nicht viel besser. Fünf Spiele im Jahr 2018, vier Niederlagen. Not gegen Elend, präsentiert an einem ungemütlich kaltem Sonntagnachmittag in der württembergischen Landeshauptstadt. Die letzten Duelle gegen die Gladbacher liefen nicht sonderlich gut, da braucht es noch nicht einmal den grausigen Blick auf die Tatsache, dass Patrick Hermann seit über einem Jahr nicht mehr getroffen hat und auch Lars Stindl derzeit Ladehemmungen hat. Der VfB hilft in solchen Situationen bekanntermaßen gern. Das Duell der Geplagten, wenn man so will. Lass es nur schnell vorbei sein.

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Um die Wogen zu glätten setzte uns der VfB sogar noch einen kleinen Teil der 2007er Meistermannschaft vor, um ein paar Sympathien zurückzugewinnen. Dass das breite Lächeln von Pavel Pardo, Thomas Hitzlsperger und Timo Hildebrand die verbrannte Erde der letzten zwei Wochen nicht einfach rückgängig machen kann, dürfte den meisten klar sein, sofern man eben nicht Teil der Vereinsführung ist. Ein zaghafter Applaus inmitten eines fast schon teilnahmslosen Grundrauschens, beobachtet von jenen, die zwar keine rechte Lust hatten, die Dauerkarte aber – typisch schwäbisch – eben schon gezahlt ist.

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Ein kurzer Moment der Freude

Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, der Ausgang des Spiels wäre mir gänzlich egal gewesen, immerhin geht es ja schließlich auch darum, wieviele Montagsspiele der VfB kommende Saison haben wird, oder eben nicht. Dass ich weit weniger emotionale Energie in die Partie investiert habe, als sonst üblich, war allerdings eine recht interessante Beobachtung. Die übliche Angespanntheit, die übliche Nervosität, das übliche Kribbeln, nichts von alledem. Einfach nur Leere und Teilnahmslosigkeit.

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Für mehr als eine kurze Siegerfaust und eine schnelle Umarmung meiner Freundinnen Jasi und Isabell reichte es nicht. Zugegeben, schlecht herausgespielt war das nicht: die Balleroberung von Emiliano Insua leitete den Spielzug ein, den die “3G” vollendeten. Gentner, Gomez und Ginczek. Fünf Minuten waren gespielt, der VfB führte, doch von der kribbelnden Anspannung, ob der VfB das über die Zeit retten oder gar ausbauen kann, oder ihm wieder die Nerven versagen, noch immer keine Spur. Es war nicht mehr die unbändige Liebe, die ich die letzten Monate und Jahre verspürt habe, es ist einiges kaputt gegangen in den vergagenen Wochen.

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Eines musste man Tayfun Korkut lassen, er hatte Mut bewiesen mit der Doppelspitze Gomez und Ginczek, der etwas andere Ochsensturm. Einer gewissen Tragik entbehrte die Situation aber nicht: warum können sie auf einmal wieder laufen, fighten und Leidenschaft zeigen? Warum ging das nicht unter Hannes Wolf? Warum zeigten sie nicht die Qualitäten auf dem Platz, um unserem Aufstiegstrainer den Job zu bewahren? Warum war es nicht möglich, über persönliche Befindlichkeiten und imaginäres Kompetenzgerangel hinwegzusehen und einfach das Beste für den Verein zu geben?

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Ausgebrannt

Auch die Kurve kam über weite Strecken nicht aus ihrer Lethargie heraus, es ist fast so, als hätte sich ein gewisser Schatten über alles gelegt. Und wieder waren die Worte wieder da, in meinem Kopf: “Emotionaler Knick”. Streckenweise war es fast so, als sei ich gar nicht wirklich anwesend gewesen. Erinnerte ich mich sonst immer Tage, gar Wochen später an bestimmte Emotionen, Gedanken, Ereignisse aus den Spielen, so ist von diesem kalten Nachmittag im Neckarstadion nicht mehr viel übrig geblieben. Das letzte, an das ich mich erinnerte, war meine Frage, woher der Schiedsrichter denn vier Minuten Nachspielzeit am Ende der Partie hergenommen hatte, wo es doch nahezu keine Unterbrechungen gab.

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Dann war es auch schon vorbei, Mario Gomez machte am Mittelkreis einen Freudensprung und die meisten gingen einigermaßen zufrieden nach Hause. Noch am selben Abend machte ich die Bilder fertig, hörte nebenher ein kleines bisschen Musik und war mit den Gedanken überall, nur nicht beim VfB. Als die Fotos veröffentlicht waren und ich mir noch ein paar Minuten Ruhe auf der Couch zugestanden hatte, war ich erleichtert – nicht, weil der VfB drei zugegebenermaßen enorm wichtige Punkte geholt hatte, sondern vielmehr, weil es vorbei war und ich mich anderen Dingen widmen konnte. Was für andere schon längst Realität ist, ist für mich der beschwerliche Anfang eines langen Prozesses.

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Ob die Emotionen, die ich vorher gekannt hatte, jemals in gleicher Form zu mir zurückkehren werden, bleibt abzuwarten. Wenn ich eines in den letzten Tagen gelernt habe, dann das, dass die Familie über alles geht und die emotionale Bindung, die ich in den letzten Jahren zum VfB aufgebaut habe, mich das viel zu oft vergessen ließ. Vielleicht habe ich einfach keine Lust mehr, meine komplette Energie in einen Verein zu stecken, der eine Fehlentscheidung nach der anderen treffen kann, ohne dass ich als Fan etwas dagegen tun kann. Vielleicht funktioniere ich erst einmal eine Weile nur als Fotografin. Vielleicht sind auch die Tage der Allesfahrerei und des Blogschreibens vorbei. Ich zweifle. Es heißt zwar, dass man den eigenen Verein bis zum Ende lieben wird, aber es soll ja auch Fälle geben, in denen die Liebe einfach nicht fürs ganze Leben ausgereicht hat. Es ist kompliziert geworden.

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