Wisst ihr, ich wollte in meinem Leben vieles sein, nur nicht gewöhnlich. Vor zehn Jahren hatte ich noch nicht gedacht, an einem verregneten Sonntagnachmittag in meiner Stuttgarter Wohnung zu sitzen, still vor mir hin grinsend, und nach Worten zu suchen, die ich für zahlreiche Leser und nicht zuletzt für mich selbst, niederschreiben. Mein ganzes Leben lang vertrete ich die Überzeugung, dass ein Leben ohne Begeisterung eine Verschwendung ist. Jene Begeisterung hat mich zuletzt sonntags hier sitzen lassen, Worte der Enttäuschung habe ich niedergeschrieben ohne nennenswerte Hoffnung, so bald wieder die schönen Seiten genießen zu dürfen. Doch wenn sie zurückkehren, fühlen sie sich um ein Vielfaches schöner an.

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Nur selten habe ich mich so gerne geirrt wie an diesem verregneten Samstagnachmittag. Wenige Tage zuvor hob ich noch den Zeigefinger und meinte, die Mannschaft ist den Beweis schuldig, mit dem bedauernswerten Pokal-Aus gegen Dortmund umzugehen. Zu viel Vertrauen war kaputt gegangen, ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass es keine Auswirkungen auf die Liga hätte. Keinesfalls spielerisch, es ging um nicht mehr als die Psyche der Spieler. Ohne jeden Zweifel hatte ich Unrecht gehabt.

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„Egal, wie dunkel die Zeit auch gewesen sind, bisher ging es immer irgendwie weiter. Das ist das einzige, woran wir uns festklammern können. Wir müssen stark sein, selbst wenn es die Mannschaft nicht ist. Keiner von uns weiß, wie es weiter geht, doch am Ende aller Tage haben wir zumindest uns und die Dinge, die uns wichtig sind. Mehr Trost kann es für uns momentan nicht geben.“ Dies waren die letzten Worte meines Spielberichts über die Partie gegen Augsburg. Es ging danach weiter, doch wie das klappen konnte, vermag uns nunmehr zum Augenreiben zu verleiten.

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Bitte nicht schon wieder Ginczek!

Was hatte ich mich nicht gefreut auf das Schreiben dieses Spielberichts. Bei molliger Wärme im Arbeitszimmer sitzen, ein paar Tassen heißer Kaffee und mit der Erinnerung an jene schönen Stunden alles noch einmal Revue passieren lassen und mit einer Gänsehaut zum digitalen Papier bringen. Es wäre so viel einfacher, wäre da nicht die Schreckensmeldung des VfB, die nun die Runde gemacht hat. Gerade erst wieder nach seinem Bandscheibenvorfall ins Training eingestiegen, hat sich unser Retter der vergangenen Saison, Daniel Ginczek, einen Kreuzbandriss zugezogen. Wieviel Pech kann man eigentlich haben?

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Es trübt wahrlich die Freude über den Sieg und die letzten Wochen. Ich hatte nicht vor, heute Trübsal zu blasen, denn Grund dazu habe ich ganz und gar nicht. Doch ein Gedanke kommt mir dann doch: was, wenn wir Daniel Ginczek dringend noch gebraucht hätten? Für Spiele, in denen er die Entscheidung erzwingen kann, wie einst in Paderborn? Doch auch, wenn diese Meldung mich massiv herunterzieht, so muss ich nur an das denken, was ich in den letzten Wochen und insbesondere gestern gelernt habe: der Mannschaft zu vertrauen. Auch dann, wenn es schwer fällt.

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Dass sie den Ausfall von Daniel Ginczek kompensieren können, das hatten Ende August die wenigsten gedacht und sahen sich bestätigt, denn Tore fielen fortan kaum noch für den VfB. Timo Werner im Formtief, Filip Kostic lustlos und Martin Harnik als auserkorener Sündenbock. Wer sollte es denn sonst machen? Der Frust war groß vor einigen Monaten und kaum jemand hätte noch Geld auf den Verein gesetzt. Heute ist das anders. Sie konnten und können den Ausfall kompensieren. Es fragt sich nur: wie lange?

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Misstrauische Blicke

Das Pokal-Aus gegen Dortmund traf mich härter, als ich es am Anfang vermutet hatte. Der neu gewonnene Optimismus, erwachsen aus jenen bedeutsamen Partien gegen Hamburg und Frankfurt, ein einziges Spiel reichte, um meine Zweifel wieder zurückzubringen. Hertha stand nicht ganz zu Unrecht auf Platz Drei der Tabelle und ob es der VfB tatsächlich gegen eine der aktuell defensivstärksten Mannschaften schafft, zu bestehen, das wollte ich doch erst einmal mit meinen eigenen Augen sehen. Ein Rückschritt in Sachen persönlicher Zuversicht.

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Eine gewisse Angespanntheit umfing mich, als ich am Vormittag meine sieben Sachen für den Stadionbesuch zusammenpackte. Der Inhalt meiner Kameratasche ist meist genau der selbe, inklusive der unscheinbaren transparenten Plastiktüte, die mir mein Kumpel Tobi nach dem Erwerb einer Jacke vom Fanstand aus einem Spaß heraus feilgeboten hat und ich sie wohlwollend annahm und in die Tasche stopfte. Bisher blieb sie ohne Einsatz, bis zum heutigen Tage.

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Wo sollte der angekündigte Regen denn sein, fragte ich Felix, als wir uns zur gewohnten Uhrzeit auf den Weg machten, gefolgt von einem Klopfen aufs Holz, oder vielmehr meine Stirn. Am geliebten Neckarstadion angekommen setzte er dann schlussendlich ein und schien zunächst nicht versiegen zu wollen, sehr zum Leidwesen der Menschenmassen, die lange an den Eingängen Schlange stehen mussten. Wie bereits wenige Tage zuvor gegen Dortmund stand ich wieder einmal im Regen, welch widerliches Anti-Fußball-Wetter. Wer im Trockenen sitzt, nennt es Fritz-Walter-Wetter, derjenige wird aber zumindest nicht nass.

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Weit entfernt vom vollen Haus

Nur 45.000 Tickets sind im Vorverkauf abgesetzt worden, welch erschreckend schwacher Zuspruch für eine Mannschaft, die in den letzten Wochen bewiesen hat, dass sie mehr Zuschauer verdient hat. Lang genug haben sie uns allen Grund gegeben, warum die Zuschauerzahlen rückläufig waren und nur zu den Top-Spielen gegen Bayern und Dortmund (inklusive ihres massiv anreisendem Anhangs) das Stadion als „Ausverkauft“ vermeldet werden kann. Ob es einzig und allein an den Faschingsferien liegt? Auch über die Tageskassen ging an diesem regnerischen Samstagnachmittag nicht mehr viel.

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Die Regentropfen auf meiner Brille trübten nicht nur meine Sicht, sondern auch die Aussicht auf viele gute Bilder. Ein seltsames Gefühl in meinem Magen, dachte ich doch noch unaufhörlich darüber nach, ob und welche Konsequenzen die Niederlage am Dienstag noch haben würde. „Keine“ hörte ich immer und überall, doch wurde mir auch ein kleines bisschen Zuspruch zuteil in Form von Verständnis, wie skeptisch die letzten Jahre einen VfB-Fan machen können.

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Optimismus war zu spüren, als die Jungs aus der Kabine kamen, um sich warm zu machen, lautes Anpeitschen, wohlwollender Applaus und ein paar Worte, die ich immer wieder um mich herum hörte: „Weiter so“. Blende ich das Spiel am Dienstag aus, wäre es dabei natürlich zu wünschen, dass sie so weitermachen. So forsch, so unbeirrt, so willensstark, so wie wir es schon lange nicht mehr erlebt haben. Die Hoffnung hat wieder Einzug gehalten, wo zuvor nur Endzeitstimmung herrschte. Und ja, ich rede dabei natürlich auch von mir selbst.

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Gemeinsam zum nächsten Sieg

Nicht wenige finden es traurig, dass diese Zeilen zu oft von Pessimismus und Hoffnungslosigkeit handeln. Dabei hoffe ich selbst doch am meisten, ich würde häufiger über die schönen Momente schreiben können, die unsere Herzen beflügeln und die Tränen der Freude in unsere Augen treiben. Wer will es mir aber verdenken, wenn man jahrelang über Momente schreibt, die einen das Herz zerfetzen und man sich mit verquollenen Augen Woche für Woche fragen muss, warum man diesen ganzen Scheiß überhaupt noch mitmacht. Weil man liebt. Deswegen.

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Die letzten Minuten bis zum Anpfiff vergingen und hinterließen weiterhin große Lücken auf den Tribünen. Zuletzt war das Stadion gegen Hamburg ausverkauft, das Alles-oder-Nichts-Spiel der entfesselten Affenbande, böse Zungen behaupten, es hätte ein wenig etwas von „Katastrophentourismus“ gehabt. Enttäuschend war es allemal, dass nur so wenige diesen nahezu entfesselt aufspielenden VfB sehen wollten, selbst das Pokalspiel war noch lange nicht ausverkauft. Dennoch bin ich optimistisch dass die Zuschauerzahlen wieder nach oben gehen – vorausgesetzt natürlich, die Mannschaft stellt sich nicht allzu blöd an.

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Der Ball rollte, unter der farbenfrohen Unterstützung der Cannstatter Kurve, die selbst noch einiges Potenzial nach oben hat. Immer weiter, Leute, immer wieder, immer lauter, auf dass wir uns bald in sicheren Fahrwassern befinden. Die Fahnen wehten, der Gästeblock schunkelte und gab sich unabhängig davon sehr siegesgewiss, die Platzierung hatte ihnen Selbstvertrauen gegeben. Doch diese Rechnung haben sie ohne unseren wiedererstarkten VfB gemacht, der vor einiger Zeit noch komplett abgeschrieben schien.

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Übers Knie gebrochen

Den wichtigsten Mann galt es zu ersetzen, Daniel Didavi saß gelb-rot gesperrt auf der Tribüne und dürfte sich selbst wohl schon Gedanken gemacht haben, wo er in der nächsten Saison spielen wird. Die Optimisten sprechen davon, dass im Falle eines Einzugs ins internationale Geschäft eine Vertragsverlängerung gar keine Utopie mehr sei, doch diesen Gedanken dürften die meisten von uns bereits ad acta gelegt haben. Auf den Tribünen war noch viel Bewegung zu vernehmen, viele nahmen jetzt erst ihre Plätze ein und sahen gleich, dass nicht viel zum frühen 1:0 fehlte.

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Was wäre das nur für eine Geschichte gewesen. Filip Kostic knüppelte aus spitzem Winkel am Tor vorbei, keine zwei Minuten waren erst gespielt. Vielleicht waren die Kräfteverhältnisse vor dieser Partie doch nicht so klar verteilt, wie ich befürchtet hatte. Ganz vorsichtig bewegte ich mich auf und ab, hob zaghaft die Fersen an, doch wie ein richtiges Hopsen für das „1893“ sah das noch nicht aus. So gestört mein Vertrauen bisweilen in die Mannschaft ist, so ist es das auch mitunter in meine Physis.

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Unter meiner hellblauen Jeans war mein rechtes Knie getaped, das Gefühl der Instabilität ohne jede Fremdeinwirkung oder andere Ursachen ließ mir zum Wochenende kaum eine andere Wahl. Ein baldiger Besuch beim Orthopäden wird Gewissheit bringen, doch natürlich spielt auch hier meine Angst mit: bitte nicht noch einmal eine herausgesprungene und operationsbedürftige Kniescheibe. Bei meiner Operation am linken Knie vor so ziemlich genau vier Jahren verpasste ich ein einziges Heimspiel seit April 2009: es war ein 5:0 im Heimspiel gegen Hertha BSC.

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Das Wiedersehen mit einem alten Bekannten

Nach zwölf Minuten hupte es zum ersten Mal durch die Lautsprecher, das erste von mehreren Zwischenergebnissen aus den anderen Stadion wurde mitgeteilt. Ein Tor war also gefallen in Bremen, die parallel gegen Hoffenheim spielten. Ein finsteres Raunen war zu hören, denn die Gäste führten, für den VfB eine eher suboptimale Konstellation, wenngleich sie vor dieser Partie zehn Punkte entfernt waren, ebenso wie Hannover, die in Dortmund spielten.

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Viel Raum für Befürchtungen bot der erste Durchgang zunächst nicht, sie machten das wirklich gut und hatten die Spielkontrolle zu jeder Zeit im Griff. Es schien fast so, als hatten die Gäste kein Interesse daran, das Spiel zu gestalten. Doch mussten sie das? Hinten standen sie sicher und vorne haben sie Vedad Ibisevic, der hier nur wenig herzlich begrüßt wurde. Der VfB machte das bemerkenswert ruhig und konsequent, doch haben wir schon zu viel erlebt in der Hinrunde.

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Man stelle sich nur vor, es ist der vom Hof gejagte Bosnier, der kurz vor Schluss den Siegtreffer macht. Was später folgte, konnte ich mir weit weniger vorstellen, dabei täte mir mehr Zuversicht und Vertrauen in diese Mannschaft so unglaublich gut. „Dann fang doch an, zu glauben“ hatten sie gesagt, dass das mitunter sehr schwer sein kann, ist aber für mich eine leidliche Tatsache. Doch eines muss man dieser Mannschaft zum jetzigen Zeitpunkt lassen: sie machen es ein wenig einfacher.

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Keine Lust auf Rückstand

Ohne jeden Zweifel hätte es Diskussionen gegeben, wäre dieses Spiel gegen die Hertha nicht gewonnen worden. Es war die eine Szene, um die sich alles gedreht hätte, die die Emotionen hätte hochkochen lassen und die Diskussionen angefacht hätte. So ganz genau sehen konnte ich es nicht, zu flach der Winkel zum Tor vor der Untertürkheimer Kurve, zu groß die Ablenkung durch das Fotografieren. Ein manch anderer Spieler hätte sich vielleicht fallen lassen. Timo Werner tat das nicht, obwohl es ein Foul war und er einen Elfmeter zugesprochen bekommen hätte. Er hätte der Buh-Mann sein können, doch auch das spricht für das neue Selbstvertrauen: „Wir schaffen es aus eigener Kraft!“

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Ach du Schreck! Da war es beinahe passiert, das eine Gegentor, von dem ich gehofft hatte, es am heutigen Tag nicht miterleben zu müssen. Die Berliner hatten unter den bangen Blicken des Publikums schnell umgeschalten und waren schnell unterwegs, die Flanke von Tolga Cigerci kam auf den Fuß von Vedad Ibisevic. Den Ball hatte ich schon drin gewesen, doch statt einem euphorischen Gästeblock beim Jubeln zuhören zu müssen, vernahm ich nur laute Schreie um mich herum: „Tyton, Tyton, Tyton!“ – ganz stark mit dem Fuß abgewehrt, unheimlich wichtig in diesem Moment.

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Unablässig regnete es weiter, die ersten Reihen der Cannstatter Kurve dürften schon weitgehend durchnässt gewesen sein. Das Wetter zwang mich immer wieder dazu, meine Kamera in die Tasche zu packen, bevor sie zu nass wird, da fiel mir plötzlich die Plastiktüte ein, die ich ganz unten noch drin hatte. Mit meinen Fingernägeln riss ich in der Mitte in Loch in die verschlossene Unterseite, stülpte das ganze über das Objektiv meiner Kamera, zupfte hier, ruckelte da und schon war er fertig, der kurzerhand improvisierte Wetterschutz. Dass mir das nicht schon vorher eingefallen ist.

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Feuer frei

Zeugwart Michael Meusch hat dieser Tage einiges zu tun. In den vergangenen drei Heimspielen gab es jeweils eine große Waschladung Trikots, die nur noch anhand des hervorscheinenden Brustrings erahnen lassen, es handle sich um die Heimspielleibchen des VfB. Umgezogen hatten sie sich nicht, als sie zur zweiten Halbzeit mit Applaus auf dem durchweichten Rasen begrüßt wurden. Überall Schlamm, Dreck, Grasflecken, das Zeugnis eines erbitterten Kampfes auf dem Weg nach oben, sei es in Liga oder Pokal, der VfB macht wieder Spaß.

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Dass wir das noch einmal mit einem mehr oder weniger breiten Lächeln im Gesicht noch von unserem Verein behaupten könnten, das hatte sich nicht unbedingt abgezeichnet. Meine Befürchtungen, die Berliner würden doch recht deutlich uns auf den Boden der Tatsachen zurückholen, schienen sich zunächst nicht zu bestätigen. Nein, es war der VfB der hier den Ton angab und schon mehrere Tore hätte erzielen können. Meine Freundin Isabel meinte noch, das Tor vor der Cannstatter Kurve sei ihr sowieso das Liebste, dann würde man wenigstens sehen, wenn der Ball ins Netz geht. Mit einer Körpergröße von unter 1,60 Metern kann ich das aber leider so nicht bestätigen.

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So schnell der VfB im ersten Durchgang das Tor machen wollte, so zügig wollte er es nun wieder versuchen. Mit großen Augen schaute ich zu Isabel, nachdem Timo Werner nach Emiliano Insuas toller Flanke am Ball vorbeirutschte. Das wäre er gewesen, der Treffer ins Lieblingstor. Geduld, Geduld! Es ist die größte Kunst, selbst im Moment der Anspannung gelassen zu bleiben und darauf zu vertrauen, dass die Spieler ihren Job machen, wie sie ihn in den letzten Wochen auf durchaus beeindruckende Art und Weise gemacht haben – eine Kunst, die ich selbst noch erlernen muss.

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Carpe Dié

Immer wieder rannten sie an, doch verzweifelten nicht selten an der schon im Vorfeld stark eingeschätzten Berliner Defensive, die teilweise recht ruppig zu Werke gingen. Es hätte einen Freistoß an der Strafraumgrenze geben müssen, das monierte eine laut aufbrausende Cannstatter Kurve, die ohnehin nicht besonders gut auf den Schiedsrichter Christian Dingert zu sprechen war. Die Wut legte sich schnell, denn nach dem erzwungenen Ballverlust war es Serey Dié, der nachsetzte und Christian Gentner den sich absetztenden Alexandru Maxim auf der rechten Seite entdeckte.

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Der kollektive Aufschrei „Schieeeeeß“, gefolgt vom kollektiven Aufschrei „Neiiiiiiiin“, denn Rune Jarstein klopfte ihn nach vorne weg. Verwirrung im Strafraum der Hertha, gepaart mit dem wilden Geschrei der Kurve. Weit aufgerissene Augen und ein rasender Puls, überall Geschrei und ich mitten drin, hoffend, bangend, gefühlt dem Kollaps nahe. Filip Kostic stand unglücklich zum Ball, er versprang ihm und wollte ihn wiederholen. Diese Spannung hälst du ja im Kopf nicht aus! Hin- und hergerissen zwischen Rune Jarstein und jenen VfBlern, die als potenzieller Torschützen in Frage kommen, registrierte ich nicht einmal den heran eilenden Serey Dié.

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So laut die Kurve auch geschrien hatte, so sehr sie den Siegtreffer beschreien wollte, alles entlud sich in einem einzigen Moment der Euphorie. Filip Kostic hatte noch zurückgezogen, als der Ivorer heranrauschte und mit dem Außenrist sehenswert das 1:0 markierte. Trocken liest es sich in der Spielstatistik: 51. Minute, 1:0 durch Serey Dié. Doch wer dem VfB gewogen ist und in diesem Augenblick in der Cannstatter Kurve stand, der weiß, dass es sich nach so viel mehr anfühlte. Die Stufen unter meinen Füßen wackelten bedächtig und mein lädiertes und schonenswertes Knie vergaß ich nun ganz und hopste mit tausenden Anderen im Takt.

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Nur nicht nachlassen

Welcher Fingerzeig des Schicksals, dass in diesem Moment der Himmel ein wenig aufklarte und der Regen es für einige Zeit aufhörte, zu regnen. Fast, als wolle man uns VfB-Fans sagen, dass die trüben Tage vorbei sind. Später regnete es zwar wieder, doch in dem Moment eine unheimlich bewegende Situation. Gerade noch schwelgte ich in Gedanken, da riss mich der Lattenkracher von John Anthony Brooks auf den Boden zurück. Konzentration! Weiter, immer weiter!

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Eine Stunde war vorüber, der VfB machte das bisher souverän und abgekocht, da kam mit Julian Schieber der nächste Ex-VfB-Spieler in die Partie. Sehr viel freundlicher als sein Mannschaftskollege wurde auch er nicht empfangen, doch ging es hier immerhin hauptsächlich um die Unterstützung unserer eigenen Mannschaft. Sehnsüchtige Blicke aufs Spielfeld, in der Hoffnung, weitere Tore vor der Cannstatter Kurve zu sehen.

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Wieviele Arme ich zum Jubeln schon oben gesehen habe, als Filip Kostics Schuss nach 67 Minuten nur knapp am Gehäuse vorbei strich, ich konnte es nicht zählen. Gerade jetzt hatte die Mannschaft unsere Untersützung nötig,doch was von der Kurve kam, war schon ein Stück weit enttäuschend. Wieder endete die Stimmung am Zaun zwischen den Blöcken 33 und 34, dabei gäbe es allen Grund, hier alles in die Waagschale zu werfen. Was hatten die Kurve denn zu verlieren? Was hatte denn die Mannschaft zu verlieren? Für viele waren drei Punkte gegen Hertha kein Muss, eher ein „Nice to have“.

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Die große Sehnsucht nach der Erlösung

Ein paar Minuten hatte der VfB noch Zeit, das erlösende zweite Tor zu machen. Wir haben schon zu oft gesehen, am Ende noch zwei dumme Gegentore zu bekommen, auch gegen die Hertha. Bange Momente zwischen Zuversicht und Ungewissheit, die Uhr tickte, doch was die Hertha anbot, war zu unserer Freude nicht unbedingt konsequent. Es aber an der Schwäche der Herthaner festzumachen, es wäre zu einfach und würde dem euphorisierten VfB einfach nicht gerecht. Dass ich noch einmal mit so viel Begeisterung über mein Team sprechen würde, hatte keiner von uns kommen sehen, am wenigsten ich selbst.

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Fünf Minuten noch. Um Himmels Willen, diese Anspannung. Die Minuten zogen sich ewig, doch auf einmal ging es dann doch ganz schnell. Wieder war es der enorm starke Lukas Rupp, der die Vorlage gab, als Artem Kravets auf dem nassen Boden ausrutschte. Er hätte zum erneuten Helden werden können, nachdem er bereits den Hamburgern den Zahn gezogen hatte. Da lag er nun, verzweifelt beschrien von der Cannstatter Kurve, die nichts mehr wollte als die Erlösung, sei es durch das zweite Tor oder durch den Schlusspfiff, der so unendlich weit entfernt schien.

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Filip Kostic hätte unzählige Male in dieser Partie zum Vorbereiter werden können, starke Flanken, starke Ecken, starke Sprints, der Serbe hatte seine Freude am Fußball unter Jürgen Kramny wieder entdeckt. Ob das reicht, um unseren Flügelflitzer im Sommer bei uns halten zu können, wird sich zeigen, doch für diesen Augenblick war uns das egal. Ähnlich herbei gerauscht wie Serey Dié beim 1:0, so war es diesmal Filip Kostic, der zum Erlöser wurde. Vorbei an den fuchtelnden Armen von Rune Jarstein, ins Herz der Kurve, die sich ihrer Begeisterung hingab.

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Besser als erwartet

Immer wieder habe ich mir dieses Tor angesehen. Immer wieder habe ich mir angesehen, wie der Ball ins Netz einschlägt. Immer wieder habe ich mir angesehen, wie er über den Rasen rutscht und mit der Kurve feiert, belagert von der nahezu kompletten Mannschaft. Immer wieder spulte ich vor und wieder zurück, wieder und immer wieder. Ob es der wieder eingesetzte Regen war, der meine Wangen hinunter lief oder ob es die Tränen der Freude waren, kann ich nicht genau sagen. Vielleicht war es auch das Bier, das mir übers Haupt geschüttet wurde.

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Es hätte mit dem Teufel zugehen müssen, um das noch herzuschenken. Sie haben aus ihren Fehlern gelernt, aus den letzten Jahren, aus der markerschütternden letzten Saison, aus der so entsetzlichen Hinrunde, nichts von alledem hatte mehr mit dieser berauschenden Spielweise zu tun. Wäre es zu viel des Guten gewesen, wenn der wieder genesene Martin Harnik das 3:0 gemacht hätte? Zunächst nur verhalten wurde es schließlich immer lauter, das mitreißende Besingen des nahenden Sieges.

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„Immer wieder, immer wieder, immer wieder VfB“ schallte es von den Rängen, nahtlos ging es über in den erleichternden Schrei, der das Spiel für beendet erklärt hatte. Wir hatten es wirklich geschafft. Die Mannschaft. Die Kurve. Der Trainer. Wenn alles miteinander harmoniert, sind es die schönsten Zeiten, die man als Fan nur erleben kann. Die Freude war riesig, erst recht bei diesen nicht zwangsweise einkalkulierten Siegen, doch darf sie eines nicht: uns blind machen. Der vorübergehende Platz Neun in der Tabelle darf uns nicht blenden und uns vergessen lassen, wie schnell es gehen kann. Nicht nur nach oben, sondern auch nach unten.

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Wohin führt dieser Weg?

Ich will nicht die Miesmacherin sein, versteht mich nicht falsch. Meine Freude über die drei Punkte ist so unheimlich groß, meine Hoffnungen auf einen nun doch entspannten Saisonverlauf ebenfalls, doch ist da auch noch ein bisschen Skepsis und Vorsicht dabei. Ein paar Spiele zu verlieren, und diese wird es mit Sicherheit noch geben, kann uns im ungünstigsten Fall auch wieder in die unteren Regionen ziehen. Dass nun der eine oder andere bereits die Tabelle anschaut und sich denkt, dass der Abstand nach oben geringer ist als nach unten, es ist legitim, aber der Weg ist noch lang. Ich brauche diese Saison noch keinen Europapokal.

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Alles, was uns eine ähnliche Situation wie die letzten Jahre erspart, ist ein Erfolg. Doch wenn es so weitergeht, bin ich die Letzte, die das abzulehnen vermag. Auf dem Boden bleiben, daran täten wir gut. Doch freuen ist erlaubt, das ließen wir auch die Mannschaft spüren, die sich voll und ganz zurecht ihren Applaus abholte. Ein noch ungewohntes Gefühl, diese Glücksgefühle und sogar so etwas wie Vorfreude aufs nächste Spiel zu empfinden, nur um die Jungs weiter wirbeln zu sehen. Es fühlt sich noch seltsam an, aber positiv seltsam. Nutzen wir den Schwung, die nächsten Spiele werden schwer genug.

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Jeder Zugewinn an Punkten schenkt mir ein Stück mehr Entspannung, die habe ich auch dringend nötig. Nicht auszudenken, wenn es ausgerechnet in Wolfsburg noch um den Klassenerhalt gehen würde. Kopfschüttelnd, lachend und mit befreitem Herzen stieg ich langsam die nassen Stufen hinauf, verabschiedete mich von Isabel und traf mich weiter oben im Block wie bei jedem Heimspiel noch mit langjährigen Freunden und Weggefährten. Vor den Toren des Stadions schnaufte ich durch, blickte in die verregnete Dunkelheit, lächelte selig unter meiner Kapuze hervor und schwieg. Es war fast so, als hätte mich dieser VfB für einen Moment sprachlos gemacht.

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