Mit Tränen in den Augen lagen wir uns in den Armen, laut schreiend und mit zitternden Knien. Noch besser kann man ein Spiel nicht erfinden. Führung, Ausgleich, Führung, Platzverweis, Ausgleich kurz vor Schluss und das Siegtor in der Nachspielzeit. Es ist der Stoff, aus dem die verrücktesten Geschichten entstehen. Eine solche hat der VfB am Sonntag Nachmittag geschrieben. Keine solche, die uns den sicheren Klassenerhalt bescheren wird. Aber ohne jeden Zweifel eine solche, die in Erinnerung bleiben wird. Eine Geschichte über den Wagemut eines Tabellenletzten, die Verzweiflung der Treuesten und einen goldenen Pass ins Glück.

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Die richtigen Worte am Tag danach zu finden, kann entweder die größte Bürde oder auch die schönste Freude sein. Es gibt Tage, an denen die Hände wie selbstverständlich über die Tastatur gleiten, ohne wirklich darüber nachzudenken, und auch solche, an denen ich minutenlang vor einem leeren Blatt papier sitze und die Worte nicht fließen wollen. Nicht alles, was mein Herz berührt, lässt sich leicht niederschreiben. Heute stelle ich mir die Frage, wie ich nur jenen, die nicht im Stadion waren, erklären soll, wie sich das 3:2 in der Nachspielzeit angefühlt hat?

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Wie soll ich auch nur annähernd beschreiben können, welch brachiale Wucht die Emotionen der leidgeprüften Cannstatter Kurve inne hatten, die um 19:16 Uhr keinen Halt mehr fanden und sich ihren Weg bahnten in einem einzigen, nicht enden wollen Jubelschrei? Die kleinen, feinen Härchen auf meinen Unterarmen stellen sich auf, meine Atmung wird schneller. Einmal schnaufe ich kurz durch, ein Lächeln huscht über meine Lippen. Es ist das Lächeln einer 28-Jährigen, die den Glauben an das beinahe Unmögliche wiedergefunden hat.

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Der Blick auf die Anderen

Die Frage nach meinem Tipp hatte ich im Vorfeld nicht beantworten wollen. Viele Optionen gab es nicht für den VfB, dem nur ein Sieg weiterhelfen konnte. Meine Laune wähnte ich am späten Samstagnachmittag bereits im Keller. Bis zur Sportschau wollte ich warten, doch die Ungeduld ließ mich nicht los und trieb mich dann doch dazu, die kicker-App auf meinem Smartphone zu starten. Sekundenlang starrte ich auf die Übersicht der aktuellen Live-Ergebnisse, zwischen Paderborn und Augsburg stand es 1:1, als ich nach dem Ende der Spiele erneut einen Blick riskieren wollte, sogar 2:1. Auch Freiburg hatte gepunktet. Sie war wieder da, die Panik vor dem drohenden Unheil.

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Lediglich die Hamburger erwiesen uns den „Gefallen“ und ließen die Punkte gegen Wolfsburg liegen. So gerne ich auch jede Saison nach Hamburg reise, so sehr ich mir auch lieber den HSV als Ingolstadt oder Leipzig in der Bundesligawünsche, so sehr ist man sich im Abstiegskampf eben selbst der Nächste. Grund zur Freude gab es nicht, zu beunruhigend die zusätzlichen Punkte für Paderborn und Freiburg. Wir alle wussten sehr gut, was es bedeuten würde, gegen Bremen nicht dreifach zu punkten. Ein furchteinflößender Gedanke.

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Eine kurze und doch recht unruhige Nacht lag hinter mir, beeinflusst von den Ergebnissen der Konkurrenz wurde meine Angst nur größer, je mehr Zeit bis zum Anpfiff verstrichen war. Wie solle man da noch einen klaren Gedanken fassen? Optimismus? Glaube? Hoffnung? Ich wusste nur eines: Wenn der VfB nicht gewinnt, dann… Und genau das war das eigentliche Problem. Zum Siegen verdammt zu sein hat der Mannschaft in der Vergangenheit nur selten schadlos gut getan, wie die Beispiele gegen Berlin und Hannover ernüchternderweise bewiesen hatten.

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Eine ahnungslose Vorahnung

Ruhelos lief ich in unserer Wohnung auf und ab. Felix hatte sich bereits auf den Weg gemacht, das U19-Spiel gegen Hoffenheim wollte er noch verfolgen, während ich später meine ehemalige Kollegin Nadine und ihren Sohn Jan-Luca am Cannstatter Bahnhof abholen sollte. Der erste Stadionbesuch für die beiden, nicht gerade die beste Zeit, um unbefleckte Kinder für Fußball begeistern zu können. Eine Fahne nahm ich mit, eine von jenen, die man über die Jahre am Stadion in die Hand gedrückt bekam, in der weisen Voraussicht, der Kleine würde sich freuen. Tat er dann auch, als wir bei schönstem Kaiserwetter zum Stadion liefen.

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Vor der Untertürkheimer Kurve trennten sich dann unsere Wege. Meine letzte Worte zu Nadine waren: „Pass auf, wenn der Kleine heute Abend sagt: ‘Mama, das dritte Tor vom VfB hat mir am Besten gefallen’, haha!“ und warf ihr ein gequältes Lächeln zu. Ich hatte ja keine Ahnung. Schnellen Schrittes und entgegen des Stroms machte ich mich auf den Weg zur Cannstatter Kurve. Da stand ich nun wieder, inmitten jeder Leute, die so wie ich jede zweite Woche hier sind. Viel zu lachen hatten wir nicht: nur zwei Heimsiege, gegen Hannover und gegen Frankfurt, ewige Zeiten torlos, chancenlos, hoffnungslos.

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Dass unser Restprogamm zum Großteil aus Heimspielen gegen die direkten Konkurrenten besteht, wähnten wir noch für einige Wochen für einen denkbar schlechtes Omen, doch nützt alles Jammern nichts, wenn die Punkte ausbleiben und man dort verbleibt, wo man seit 64 Tagen sein bedauernswertes Dasein fristet: am Tabellenende. Man wolle dort weg und alles dafür gegeben, dass man spätestens nach dem 34. Spieltag über dem Strich steht, wurde uns versichert. Lange Zeit waren sie den Beweis für diese gewagte These schuldig geblieben.

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Es dampft im Kessel

Für die heutigen Gäste aus dem Norden ging es ums internationale Geschäft, sie wollten ihre Chance wahren, doch noch in den Europapokal zu rutschen, nachdem sie am 11. Spieltag im Hinspiel die rote Laterne an uns übergeben hatten. Vieles hatte sich in Bremen seither gewandelt, der VfB lieferte keine Antworten, auch nicht auf die Frage, warum man aus der vergangenen Saison des Grauens keine Lehren gezogen hatte. Die Angst war groß, das rettende Ufer aus den Augen zu verlieren. Und damit stand ich mit Sicherheit nicht alleine da. Doch wir standen hier. Das war alles, was die Mannschaft wissen musste.

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Vor 51.400 Zuschauern führte der Unparteiische Günter Perl die Mannschaften aufs Feld, es war angerichtet für die letzte Partie des 28. Spieltags. Ein weiteres Mal richtete ich meine Kamera auf die Cannstatter Kurve zu meiner Linken, hinter unzähligen Fahnen, Doppelhaltern und Schals stiegen weiße und rote Rauchschwaden hinauf. Ein Heimspiel-Intro mit Pyrotechnik hatte es seit der Partie gegen die Bayern in der vergangenen Saison nicht mehr gegeben.

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Hinzu kamen ein paar bengalische Fackeln rundeten das Intro ab, bevor es pünktlich um 17:30 Uhr losgehen konnte. Den neutralen und stimmungsgeneigten Zuschauer erfreute es, der Ordnungsdienst blieb entspannt und doch ließ die obligatorische Schlagzeile „Pyro-Chaoten!“ in den Gazetten nicht lange auf sich warten. Ein Wunder, dass keiner zu Tode kam und auch niemand von den gefährlichen Hooligans verletzt wurde.

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Zarte Hoffnungen

Es lag etwas in der Luft, und es waren nicht alleine die Rauchschwaden, die sich nur langsam gelegt hatten. Wohin ich auch schaute, ich spürte trotz der prekären Lage unter dem Sinnbild eines weiteren Entscheidungsspiels keine Hoffnungslosigkeit. Der Heimsieg gegen Frankfurt und das zumindest in der ersten Halbzeit mutmachende Spiel in Wolfsburg bewahrten die Hoffnungen einer ganzen Region, es ist noch zu früh, die Flinte ins Korn zu werfen.

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Und auch, wenn ich im Moment des allergrößten Frusts etwas anderes behaupte: Aufgeben will auch ich nicht. Nicht, solange auch nur ein Funken Hoffnung in dieser Mannschaft und in dieser Kurve steckt. Kämpfen und siegen, niemals aufgeben. So oft haben wir es bereits gemeinsam gesungen und dabei unsere Faust erhoben für die Spieler auf dem Rasen. Nicht immer haben sie uns erhöht, nicht immer wurde es uns gedankt, doch immer wieder kamen die Treuesten zurück in die Kurve, um ein weiteres Mal alles zu geben. Einen größeren Beweis der Liebe gibt es nicht.

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Der Ball rollte bereits. Um mich herum vernahm ich die altbekannten lauten Gesänge, ohne ahnen zu können, wieviele Dezibel mein Ohr an diesem Nachmittag noch „ertragen“ müsste. Die Partie begann unruhig, unzählige Fehlpässe machten es schwer, an ein positives Ende für den VfB zu glauben. Sie wirkten ein wenig gehemmt und verunsichert, ein nahezu durchgängiges Bild aus den zurückliegenden schweren Monaten.

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Unhaltbar ins Eck

Direkt neben mir stand Nina, wie schon gegen Frankfurt. Wenns Glück bringt…?! Und sie tat es! Eine Viertelstunde war gespielt, da fielen wir uns zum ersten Mal in die Arme, freudestrahlend, hoffnungsvoll, erleichtert – zumindest fürs erste. Hätte der VfB nur die Hälfte seiner Führungen ins Ziel gebracht, man hätte so einige Sorgen weniger. Filip Kostics Flanke konnten die Bremer nicht verhindern, wohl aber das direkte Tor von Martin Harnik, der noch einige Male zur tragischen Figur werden sollte. Der Ball war noch heiß. Aus dem Hintergrund müsste Gentner schießen, Gentner schießt, Toooor Toooor Tooooooooor!

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Was sich in den ersten Minuten angedeutet hatte, fand nun seinen Weg zum Führungstreffer. Sie taten mehr fürs Spiel als die Gäste aus der Hansestadt, frenetisch gefeiert mit einem lauten „Und wenn die ganze Kurve tobt“, kurz darauf verfehlten Filip Kostic und Florian Klein das 2:0. Du liebe Zeit! Ein erster Vorgeschmack auf das, was noch kommen sollte. Die Stufen unter mir vibrierten, es war der Herzschlag einer Kurve, die so viel hatte einstecken müssen.

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Sie wollten mehr. Wir wollten mehr. Wir brauchten mehr, denn wir wussten, dass uns ein einziges Tor im Zweifel nicht reichen wird. Nicht bei einer Statistik von 4,1 Toren in dieser Begegnung. Und erst recht nicht mit dem Wissen, wie anfällig die Stuttgarter Abwehr mitunter sein kann, wenn die Nerven blank liegen. Ein zweites Tor musste her, daran bestand kein Zweifel. Eines war bereits geschafft – doch für Genügsamkeit ist in unserer aktuellen Situation einfach kein Platz.

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Ausgleich aus dem Nichts

Am mangelnden Willen hatte es zuletzt nur selten gefehlt, doch ohne die wichtigen Punkte nach Hause zu bringen, ist auch diese Erkenntnis nahezu wertlos. Dem VfB konnten wir wohlwollend attestieren, mehr getan zu haben, als in den vergangenen Spielen. Ob es am Ende reichen würde, konnten wir nur abwarten. Mit dem 1:0 ging es in die Pause, in der ich Bekanntschaft mit einem jungen Mann namens Markus machte, der mich fragte, ob ich die gewesen sein, die… „Ja! Das war ich!“ – ich musste ihn noch nicht einmal aussprechen lassen.

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Es folgte ein nettes Gespräch, über die Partie, über die Wege, die mich zum VfB geführt haben und darüber, wie mich das wiederum zur Darstellerin in der SWR-Doku „Fußballfieber“ machte. Mit lautem Applaus begrüßten wir die Akteure wieder zurück auf dem Feld, und auch der Auslöser meiner Kamera wurde immer wieder betätigt. Noch war die Stimmung nach dem Seitenwechsel gut, doch nur kurz darauf verstummten wir.

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Der haarstreubende Ballverlust, der Sprint von Franco di Santo und der Kopfball vom ehemaligen Jung-Stuttgarter Davie Selke reichten aus, um aus dem viel gefeierten 1:0 ein 1:1 zu machen, was uns zu diesem Zeitpunkt keinen einzigen Millimeter weitergebracht hätte. Alles wieder auf Anfang. Bitter, unnötig und vor allem, wenn man den neutralen Medien ohne Vereinsbrille vertrauen darf, unverdient. Wie der VfB damit nun umgeht, das war die große Frage. Gerade noch hatten alle im Block 33 mitgesungen, sie waren schnell verstummt.

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Stuttgarts tragischer Held

Und doch war es interessant, zu sehen, wie die Mannschaft mit diesem unerwarteten Nackenschlag umgegangen war. Verunsicherung, Nervösität und Panik? Hinfallen, aufstehen, Brustring richten, weitergehen! Sie spielten nahezu unbeeindruckt weiter nach vorn, immer bereit, den einen Schritt mehr zu gehen, mehr zu laufen, mehr zu tun, um ein weiteres Tor zu erzwingen. Es fällt nicht schwer, zu erraten, was im Spielbericht gestanden hätte, wäre es am Ende schief gegangen: „Es waren gute Ansätze da“. Das waren sie oft. Genützt haben sie nicht viel.

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Das Stadion stöhnte und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Über Christian Gentner und Daniel Ginczek bekam er den Ball ideal vorgelegt, und doch schoss Martin Harnik drüber, dabei hatte er alle Möglichkeiten der Welt und brauchte sich Raphael Wolf nur noch auszugucken. Sekunden später zog Filip Kostic zum nächsten Sprint an, an der gleichen Stelle des Spielfelds, wo noch drei Wochen zuvor gegen Frankfurt der Grundstein für den Heimsieg gelegt worden war. Adressant: wieder Martin Harnik.

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Halbhoch schlug der Serbe die Flanke vors Tor, vorbei an Raphael Wolf, der am kurzen Pfosten wie festgeklebt schien, freistehend stand der Österreicher vor dem leeren Tor: „Komm schon, halt einfach deinen gottverdammten Fuß hin und stoß uns das Tor zum Himmel auf. Es sind doch nur drei Meter, da kann man doch gar nicht vorbei schießen“ dachte ich. Eine Sekunde später lag er auf dem Bauch, das Gesicht tief in den Rasen vergraben, als hoffte er, der Boden möge sich auftun.

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Mit Köpfchen!

Die ersten lauten Pfiffe hallten durchs Stadion. Nicht drin. Der Ball war einfach nicht drin. Unfassbar. Das wird sich der tragische Held mit Sicherheit auch gedacht haben. Er konnte einem wahrlich leid tun. Binnen nicht einmal einer Minute eine hundertprozentigen und eine tausendprozentige Chance vertan. Später sagte er im Interview, er hätte die Pfiffe durchaus vernommen, sie hätten ihm wehgetan. Er wollte es unbedingt wiedergutmachen, und fehlt es ihm derzeit auch am einen oder anderen glücklichen Füßchen, er kämpft immer bis zum Schluss.

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„Er hatte seine Chance“ war selten so treffend wie für unsere Nummer Sieben, Huub Stevens hatte bereits seine Auswechslung vorbereitet, Timo Werner sollte für ihn kommen. Doch einmal sollte er doch noch in Erscheinung treten, nicht als bemitleidenswertes Häufchen Elend, sondern als der, der das 2:1 vorgelegt hatte. Zwar half Raphael Wolf beherzt mit, in dem er völlig unkoordiniert aus seinem Strafraum rannte, doch gönnen wir einzig und allein unserem Österreicher den Assist.

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Es war Daniel Ginczek, der seinen Schädel hinhielt und dessen Geste mit den Armen nur eines zeigen sollte: „Nur nicht durchdrehen, wir sind noch nicht durch“, konnte sich der überschäumenden Freude seiner Mitspieler dann dennoch nicht verwehren. Er drehte ab in Richtung Eckfahne, Alexandru Maxim sank vor dem Strafraum zu Boden, alle Vier von sich gestreckt und hob beide Fäuste in die Luft. Und auch Martin Harnik konnte wieder lächeln.

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Die Angst vor dem Reflex

Der Torjubel in der eigenen Kurve gehört zu den schönsten Dingen, die man sich als Fußballfan nur vorstellen kann. Bierduschen ergossen sich über mich, schützend lehnte ich mich einige Zentimeter vor, damit die Kamera nicht nass wird. An die Fotos einer euphorischen Cannstatter Kurve dachte ich erst nach etwa 5,8 Sekunden, warf einen Blick aufs Display und spürte, wie jeder meiner Gesichtszüge augenblicklich erstarrte.

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Beim 2:1 war die Kamera eingeschaltet, ich muss wohl, vom Adrenalin geschüttelt, mit dem Finger auf die Tasten des Menüs gekommen sein. Auf der Anzeige las ich: „Alle Bilder löschen? [Ja] [Nein]“ – dass ich keine reflexartige Bewegung Auf den Knopf „Ok“ gemacht habe, wird mir wohl noch eine Weile als Alptraum eines jeden Fotografen im Gedächtnis bleiben. Das war verdammt knapp. Dieser Schock reichte mir schon für den Tag, ein entspanntes restliches Spiel wurde mir dennoch verwehrt.

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Die Uhr tickte. Je näher der Abpfiff kam, desto wilder flatterten meine Nerven. Irgendwie über die Bühne bekommen oder sogar noch einen drauflegen. Klingt einfach, ist es aber natürlich nicht, erst recht nicht auf dem letzten Tabellenplatz. Der sportliche Graben, der sich seit vergangenem Herbst zwischen beiden Mannschaften auftat, schien wie zugeschüttet. Man vermochte es kaum auszusprechen, dass der VfB hier die klar (!!) bessere (!!!!) Mannschaft war.

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Schockstarre

Irgendwie noch die letzten fünf Minuten ohne Gegentor überstehen, und das Stadion wird zum kompletten Tollhaus. Drei Punkte mit Signalwirkung, wie schön es doch wäre. Über unseren Köpfen hing die riesige Anzeigetafel, auf der geschrieben stand: VfB Stuttgart 2. Werder Bremen 1. Sie gaben alles, ohne jeden Zweifel. Doch Martin Harnik hat nun einfach nicht das Glück gepachtet, an der Seitenlinie grätschte er Zlatko Junuzovic weg und sah nach seiner Verwarnung gut zehn Minuten zuvor auch noch Gelb-Rot.

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Mindestens fünf Minuten plus Nachspielzeit in Unterzahl. Huub Stevens reagierte und brachte Daniel Schwaab zum Stärken der Abwehr. Zum Teufel mit der Offensive, jetzt musste Beton angerührt werden.Werder Bremen spürte das, und auch ich fühlte mich so eigenartig unbehaglich, als Zlatko Junuzovic zum Eckball vor der Cannstatter Kurve antrat. Es wurde still um mich herum und die letzten Fans verstummten, als der Eckball den Kopf von Jannik Vestergaard fand.

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Als sei es mit Ansage gekommen. Gerade noch der Platzverweis, Minuten später der Ausgleich durch die Gäste. Schockstarre. Das durfte einfach nicht wahr sein. Ein Unentschieden bringt uns nichts, nicht umsonst hatte es im Vorfeld geheißen, dass gemessen an den Ergebnissen der Konkurrenz nur ein Sieg die Hoffnungen auf den Klassenerhalt weiterleben lässt. Auf der Haupttribüne setzten sie sich in Bewegung, die ersten Fans in der Kurve winkten ab und kehrten dem Spielfeld den Rücken. Es war einfach zu schmerzhaft.

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Ab durch Dié Mitte

Drei Minuten vor dem regulären Ende war die Stimmung tot. Ein paar wenige Meter trennten uns vor der Ziellinie, fast das komplette Spiel über hatten sie stets das Zepter in der Hand und vermochten es nicht, drei Punkte ins Ziel zu retten. Apathisch starrte ich auf die letzten Spielzüge und fragte mich immer wieder „Warum?“. Warum schafft es der VfB einfach nicht, sich selbst zu belohnen? Ganze Teile der Haupt- und Gegentribüne waren bereits leer. Was sollen wir denn mit dem einen Punkt? Jeder Zähler ist wichtig, heißt es, doch kaum ein anderer könnte gefühlt wertloser sein als dieser hier.

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Die Nachspielzeit war bereits angebrochen. Einen weiteren Angriff der Bremer, die nun Morgenluft witterten, unterband Georg Niedermeier, er verteilte in höchster Not an Serey Dié, dessen haarsträubender Fehlpass zum 1:1-Ausgleich geführt hatte. Der rannte. Und rannte. Und rannte. Kurz bevor einer der gegnerischen Abwehrspieler in den Zweikampf gehen konnte, spielte er ab. Steil. Nach vorne. Drei Schwarze, ein Weißer. Ich fing an zu beten.

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Lieber Fußballgott, wenn es dich wirklich gibt, dann… Nach dieser Partie bin ich mir sicher, dass er mich erhört hat. Würde er wollen, dass wir absteigen, hätte nicht das passieren können, was nun passiert ist. Um 17:16 Uhr rutschte Jannik Vestergaard, bevor er Serey Diés Pass klären konnte. Daniel Ginczek stand nun alleine vor Raphael Wolf. Millisekunden fühlten sich an wie eine Ewigkeit, beinahe in Zeitlupe nahm ich jene Szenen war, die folgten. Ich faltete meine Hände vor dem Gesicht und flüsterte immer wieder „Bitte, bitte, bitte!“. Ein einziger Schuss, um Geschichte zu schreiben.

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Momente des Glücks

Mittlerweile ist es spätabends am Montag. Hier sitze ich nun seit fünf Minuten, tippe, lösche, tippe wieder und lösche erneut, auf der Suche nach den richtigen Worten, die auch nur im Ansatz dem gerecht werden könnten, was wir gestern gemeinsam erleben durften. Mein Hals schmerzt, wie auch meine Beine. Da ist sie wieder, die Gänsehaut. Würde ich nicht das lieben, was ich hier tue, ich hätte das Schreiben und auch das Fotografieren wohl schon längst aufgegeben.

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Stunden um Stunden investiere ich, um all das hier niederzuschreiben. Für die Nachwelt. Für Jene, die nicht dabei waren. Für Jene, die dabei waren. Und nicht zuletzt für mich selbst, um jedes Mal mit ein paar wenigen Worten gedanklich dorthin reisen zu können, wo mir der VfB die größten Emotionen bescheren konnte, in Momenten, die mir viel bedeuten, manchmal mehr, als es mir selbst gut tut. Von all den Momenten, die ich hier in diesem Blog bereits niedergeschrieben habe, gehört dieser zu den schönsten.

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Ich schrie, so laut ich nur konnte. Die Augen weit aufgerissen, ungläubig, zu verstehen, was vor unseren Augen passiert war. Ob es nun Leute waren, die man zum ersten Mal so, oder jene, mit denen man seit Jahren den Block teilt, es war im Bruchteil einer Sekunde hinfällig geworden. Wir lagen uns in den Armen und schrien einfach nur unsere Freunde heraus. Alles, wofür wir gekämpft haben, woran wir geglaubt haben und was wir uns erhofft hatten. Alles für diesen Augenblick.

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Der Fußballgott auf unserer Seite

Es hätte auch anders laufen können. Vielleicht wäre Jannik Vestergaard nicht ausgerutscht, vielleicht wäre der Pass von Serey Dié nicht durchgekommen, vielleicht hätte Daniel Ginczek nur Raphael Wolf angeschossen, wenn dieser seine Beine nicht weit genug geöffnet hätte. Null und nichtig. Gleich sollte es vorbei sein. Bremen kam noch einmal, ein letztes Mal den Angriff überstehen. Martin Harnik kam mit dem 3:2 aus der Kabine gerannt, stand vollkommen gelähmt im Spielertunnel.

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Beinahe endlos zog sich die Nachspielzeit. In den letzten Sekunden wurde es etwas ruhiger in der Kurve, fast so, als wolle man den Moment des Abpfiffs geradezu zelebrieren. Und genau das tat man auch, zum nächsten lauten Jubel gesellte sich nun auch endlich das wohlige Gefühl der Erleichterung. Der tragische Held des Nachmittags war der erste Gratulant bei Doppelpacker Daniel Ginczek. Martin Harnik wusste genau, bei wem er sich bedanken musste, um nicht vollends als Buhmann dazustehen.

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Lange waren sie am Mittelkreis gestanden, klatschten sich ab und durften sich dann auch endlich den Jubel der Cannstatter Kurve abholen. Klatschen, Jubelfäuse und eine Mischung aus „Weitermachen!“ und „Genau so!“. Viel vernehmen konnte man nicht, durch die Boxen dröhnte das so selten gehörte Lied „Paradise City“ von den Guns ‘n’ Roses. Ob die Danksagung an die Kurve wegen des Pyro-Intros leicht unterkühlt ausgefallen war, bleibt nur zu mutmaßen, doch das war uns in diesem Moment beinahe egal.

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Brutal wichtig

Von vielen hatte ich mich noch verabschiedet, die Meinung zum Spiel war stets die selbe: „Völlig irre!“. Bald brachen wir auf, begleitet von unzähligen lachenden Gesichtern und gut gelaunten Gesängen. Fußball kann so schön einfach und auch einfach schön sein, das hatten wir in Stuttgart schon beinahe vergessen. Drei immens wichtige Punkte, ohne jede Frage. Hier hat heute kein Absteiger gespielt, dessen konnte man sich sicher sein. Sie können es, und das ist die wohl wertvollste Lehre aus einer verrückten Partie.

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Lange war ich noch wach, bearbeitete bis in die Nacht die Bilder und konnte mich auch danach nicht vom Rechner lösen. Seitenweise verschlang ich des Nachts noch Spielberichte, las komplette Ticker nach, schaute mir die Interviews an, genauso wie Daniel Ginczeks Siegtor in der Nachspielzeit. Mir ist spontan nur ein Heimspiel eingefallen, das der VfB in der Nachspielzeit noch gewinnen konnte. Es war auf den Tag genau vor sechs Jahren, gegen den HSV. Der Torschütze einst trug ebenfalls die Nummer 33. Der Grundstein für die Dauerkarte war gelegt.

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Zum ersten Mal seit 64 Tagen konnte der VfB den letzten Tabellenplatz verlassen. Was noch keine sichere Rettung bedeutet, schon klar, doch wohnt diesem Heimsieg jener Zauber inne, endlich den mentalen Hebel gefunden zu haben. Die rote Laterne übergaben wir nun an die Hamburger, deren Spieler sich in der Halbzeitpause geprügelt haben und deren chaotische Verhältnisse unsere zaghafte Hoffnung sind. Schauen müssen wir jedoch in erster Linie auf uns selbst. Ich sage „Uns“, weil wir ein Teil dieses Vereins sind, jeder einzelne in der Cannstatter Kurve.

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