Seit Stunden schleiche ich immer wieder um meinem Rechner herum, schaue wissenden Blickes auf die Tastatur, die noch völlig unbehelligt auf dem buchefarbenen Schreibtisch liegt. Ich weiß, was zu tun ist. Aber ich weiß nicht, ob ich es möchte. Mehr als 24 Stunden hatte ich nun Zeit, die Geschehnisse des Samstag Nachmittags für mich selbst zu verarbeiten, sie einzuschätzen und sie schlussendlich zu Papier zu bringen. Was bleibt ist das Gefühl, es bereits geahnt zu haben, und zu guter letzt: dass es wohl besser wäre, nichts mehr von diesem Verein zu erwarten.
Was hart und lieblos klingt ist schlussendlich eine reine Selbstschutzmaßnahme, getroffen aus den Beweggründen, die sich ganz und gar nicht danach anhören: aus Liebe. Ich liebe diesen Verein, vor sieben Jahren schenkte ich ihm mein Herz und würde ihm gern auf jedem einzelnen Schritt folgen, am liebsten mit regelmäßigen Erfolgserlebnissen. Was am Anfang meines Weges als Fußballfan eine machbare Aufgabe war, entwickelte sich mehr und mehr zum Martyrium.
In den letzten drei Jahren spielte der VfB zwei Mal direkt gegen den Abstieg. Was einst noch verzeihbare Ausrutscher waren, sind zur Regelmäßigkeit geworden. Wenn es etwas gibt, was mich das Pokalspiel am 16. August gelehrt hat, dann wohl, künftig nichts mehr zu erwarten. Es waren wundervolle Jahre im internationalen Geschäft. Sehnsüchtig werde ich zurück denken, denn mehr als Abstiegskampf wird wohl kaum möglich sein.
Was hat sich denn geändert?
Wieviel Kraft und Nerven die vergangene Saison gekostet hat, werden meine Leser hinreichend wissen. Man hatte den Kollaps im letzten Moment verhindern können, lange ließen die Fragen, wie es jetzt weiter geht, nicht auf sich warten. Man wolle es in jedem Falle besser machen als zuletzt, große Worte auf der Mitgliederversammlung Ende Juli und in jedem einzelnen Interview und in jeder einzelnen Wortmeldung in den vergangenen Tagen, Wochen und Monaten.
Was hat sich geändert? Die Antwort darauf ist schnell formuliert: Gar nichts. Wir alle hatten gehofft, das man mit einem erfolgreichen Auftakt in der ersten Pokalrunde einem Fehlstart in der Liga vorbeugen würde, mit einem Erfolgserlebnis spielt es sich bekanntlich so viel leichter. Nun stehen wir da, mit nichts in der Hand. Ohne ein Weiterkommen im Pokal und ohne Hoffnung, dass aus der Phrase „Dann konzentrieren wir uns jetzt eben auf den Ligabetrieb“ mehr wird als nur leeres Geschwätz.
All die Jahre haben mich langsam verbittern. Trotz allem kann ich diesem Verein nicht den Rücken kehren, zu schön sind die Erinnerungen an die schönen Stunden, die ich dank dem VfB erleben durfte, und ohne ihn wäre ich jetzt auch nicht hier, in Stuttgart. Wieviel Leid einem Fan zugemutet werden kann, darüber scheint man in Bad Cannstatt allerdings geteilter Meinung zu sein.
Ein mulmiges Gefühl
Schon mit der Auslosung bekam mich ein ungutes Gefühl. Ein Zweitligist schon in der ersten Runde? Zwar schrammten die Bochumer nur knapp dem Abstieg in Liga 3 vorbei, doch war es alles andere als der klassische Pokalauftakt, der uns in den letzten Jahren unterem anderem BFC Dynamo, Falkensee-Finkenkrug und Wehen Wiesbaden bescherte. Allesamt erfolgreich, mal mehr, mal weniger. Allein der Gedanke, die zweite Runde nicht mehr zu erleben, machte sich angesichts der letzten Saison sehr schnell breit.
Noch im vorletzten Jahr mokierte ich, ich hätte mir statt dem Heimspiel in der dritten Runde lieber ein Auswärtsspiel in Bochum gewünscht, ich hatte schließlich tolle Erinnerungen an den engen und kleinen Gästeblock mit seinen steilen Stufen. Von allen Losen musste es ausgerechnet dieses sein. Die schwerste aller möglichen Aufgaben, doch was wären wir für Fans, wenn wir die Möglichkeit, nach Bochum zu fahren, nicht ins Auge gefasst hätten?
Es gibt hin und wieder Auswärtsfahrten, die zu einem Highlight werden, wie beispielsweise Leverkusen 2012 mit dem Schiff, Timisoara 2009 als 6-Tages-Reise oder Bremen 2011 mit Nutella-Tickets der Deutschen Bahn im Wert von gerade einmal 9 Euro. Jene Fahrten bleiben im Gedächtnis, nun wird sich Bochum in diese Liste mit eintragen. Da unsere übliche Mitfahrgelegenheit einige Tage Urlaub in Schweden genoss und von dort direkt anreiste, wurden wir an der Haustüre abgeholt. Mit einer Mercedes S-Klasse 350. Man gönnt sich ja sonst nichts.
Auswärtsfahrt deluxe
Hochglanz-Schwarz, Massage-Funktion, Rücksitz-Bildschirme, stufenlos einstellbare Sitze, eigenes Klimanlagen- und Entertainment-Programm für jeden Fahrzeuginsassen und jede Menge Beinfreiheit für Felix. Die Deluxe-Variante unter allen Auswärtsfahrten, für gerade einmal 25 Euro Spritbeteiligung kann man das schonmal machen. Entspannt dank Hot Stone & Co. ging es für uns am frühen Morgen in Richtung Ruhrpott. Dass ich mir bezüglich weiterkommen keine Illusionen machte, wusste man bereits. Und doch hofften alle – inklusive mir selbst – dass ich mich irren würde.
Die innere Unruhe stieg, ein ganz kleines Bisschen hatte sie mir ja gefehlt in der Sommerpause. Andererseits würde ich gerne auf Panikattacken, Schweißausbrüche und Bauchschmerzen verzichten, die das eine oder andere wichtige Spiele bereits mit sich gebracht hat. Eine langweilige Saison im Mittelfeld mit Luft nach oben, mein Nervenkostüm wäre dankbar. Schnell noch das VfB-Shirt drüber gezogen, welches im Sinne einer vorsichtshalber neutralen Anreise im Kofferraum lag, nach wenigen Metern waren wir da.
Es war noch relativ ruhig zu dieser frühen Stunde, einzig eine Karawane von Bochumern zog am Gästeblock vorbei. Dass die Ultras zu diesem Zeitpunkt noch nicht mit den Bussen angekommen waren, war mir in diesem einen Moment nicht unbedingt unrecht, das sahen auch Andi und Ramona, mit denen wir angereist waren, ebenso. Noch ein Fleischküchle im Brötchen als Ersatzmittagessen und einen ersten Blick in den Block geworfen, in dem ich 5.228 Tage zuvor einen weitgehend ungefährdeten Auswärtssieg im Ligaspiel sah. Gerne wieder.
Ein weiß-roter Pflichtspielauftakt
Nach und nach füllte sich auch der Block, doch war es nicht die Zuversicht, die mit den rund 2.700 VfB-Fans in den Ruhrpott gespült wurde, sondern vielmehr die Sorge vor dem, was ich bereits mit der Auslosung befürchtet hatte. Wir kennen unseren VfB, und wissen genau, dass er nur allzu gern mit einer Arschbombe hinein springt, wenn sich irgendwo ein Fettnäpfchen auftut. Leicht würde das auf keinem Fall werden, und dass der VfB in den letzten Jahren fast immer den Saisonauftakt verschlafen hat, machte die Hoffnungen auf die zweite Pokalrunde nicht wesentlich größer.
Weiter oben, einen Steinwurf von der Anzeigetafel entfernt, bezogen wir Stellung, mit gutem Blick auf den Stimmungskern. Oh Gott, bitte lass das heute irgendwie gut gehen, völlig egal wie. Ein guter Auftakt kann viel ausmachen für den Verlauf der nächsten Wochen und Monate. Dass aus einer Befürchtung tatsächlich bittere Wahrheit wurde, das vermochte man sich noch nicht vorzustellen. Viele sahen sich nach vielen Monaten das erste Mal wieder, freudige Begrüßungen und Enthusiasmus, dass es nun endlich wieder losgeht.
Nur noch wenige Minuten bis zum Anpfiff. Durch die Reihen liefen einige Leute, einige mit Pappkisten voller weißer und roter Konfettirollen, andere mit Handzetteln, die die Instruktionen für das ausgegebene Material enthielten. Ein Konfetti-Intro sollte es also sein. All die Hoffnungen an die neue Saison, all die Entschuldigungen und Gelöbnisse, es definitiv besser machen zu wollen, wir haben so viel gehört und gelesen in den vergangenen Wochen und Monaten. Hier sollte es beginnen.
Vernebelte Sinne
Es war soweit, die Mannschaften betraten das Feld. Viel davon gesehen habe ich nicht, ich verlor mich in einer weiß-roten Wolke, in der man für einige Sekunden nicht das geringste mehr sehen konnte. Erst langsam legte sich der bunte Staub und fiel darnieder auf den von einem kurzen Regenschauer getränkten Rasen. Bis in den Strafraum wehte es die kleinen Schnipsel hinein, getragen von einer sanften Hoffnung, dass unser Weg uns ein weiteres Mal nach Berlin führen würde.
Der Ball rollte, und schon waren wir mittendrin im ersten Pflichtspiel. Unser frischer Neuzugang Filip Kostic durfte von Beginn an spielen, brachte aber in den ersten Minuten noch nichts erleuchtendes zustande, bis auf die Tatsache, dass er in das Equipment des Kameramanns hinein gegrätscht war. Viel stand auf dem Spiel, nicht nur viel Geld und Prestige, sondern auch das, was man den Fans zurückzahlen sollte, nachdem man von uns vergangene Saison so ziemlich jedes Opfer gefordert hatte. Wiedergutmachung stand auf dem Plan, das hatte man uns versprochen.
Wenige Minuten waren gespielt und schon nahm das seinen Lauf, was ich befürchtet hatte. Die fußballerische Qualität will ich ja meinem Verein nicht absprechen, doch wird es Ihnen doch immer wieder zum Verhängnis, wenn sie zu Beginn der Partie schludrig sind und nicht sofort dem Gegner ihr Spiel aufzwingen. Sie überließen den Bochumern bereitwillig den Ball. Warum, wird wohl deren Geheimnis bleiben.
Früher Rückstand
Keine zehn Minuten gespielt, der Bochumer Jan Simunek drosch die Kugel ins Aus, Abschlag für Sven Ulreich, kein Grund für Besorgnis. Eigentlich. Unser Keeper ist bekannt für seine weiten Abschläge, weil ihm oft entweder nichts besseres einfällt oder die Mitspieler einfach nicht besser stehen, um daraus etwas wirklich Produktives zu machen. Eigentlich. Oriol Romeu, unser Leihspieler aus Chelsea, ist kein unbeschriebenes Blatt und bringt zwar wenig Deutsch mit, dafür aber internationale Erfahrung. Eigentlich. Normalerweise kassiert der VfB erst gegen Ende der Partie die Gegentore. Eigentlich.
Ich kann nicht sagen, was in diesem Moment in unserer Nummer Eins vorging. Ein direkter Pass auf einen, der in unmittelbarer Nähe gleich drei Gegenspieler um sich herum hat, was in Dreiteufelsnamen hatte Ulle erwartet, was dann passieren würde? Simon Terodde brauchte nur noch herzlichst „Danke“ zu sagen. Nach neun Minuten führte der Zweitligist also bereits mit 1:0. Was bei manch anderen Vereinen noch kein besonderer Grund zur Besorgnis ist, ließ mir schon den eiskalten Angstschweiß den Rücken hinunter laufen.
Ich kenne meinen VfB, und ich weiß, was er nicht kann: so etwas gut wegstecken. Man möchte meinen, 80 Minuten sind genug Zeit, um ein entrücktes Zwischenergebnis noch zum eigenen Gunsten umzubiegen. Zu viel habe ich gesehen und erlebt in den vergangenen Monaten, so dass mir jeglicher Optimismus und die Fähigkeit, nicht sofort den Teufel an die Wand zu malen, abhanden gekommen ist. Das hier war die Realität und sie ließ mich nicht gerade hoffen, die Jungs würden sich an jene unvergessliche Zeit in der Rückrunde 2012 zurück erinnern, als ein Rückstand der Beginn einer fulminanten Aufholjagd war.
Nicht gerade unerwartet
Lange dauerte es nicht, bis sie wieder vor Ulle auftauchten. Schnelles Umschaltspiel, direkte Pässe, gutes Stellungsspiel – alles, was man sich vorgenommen hatte, statt unserer eigenen Mannschaft setzten es die Bochumer um. Wer war denn hier bitte der Zweitligist? Von einem Klassenunterschied war nichts zu spüren, von dem wirklichen Willen, das entrückte Ergebnis gerade zu rücken, noch viel weniger. Abgesehen von einer kleineren Chance durch Martin Harnik tat sich nicht viel, was unsere Hoffnungen wachsen ließ, es würde sich nur um einen kurzfristigen Rückstand handeln.
Noch war die Stimmung gut bei den mitgereisten Stuttgartern. Noch. Bei mir sah das selbstredend etwas anders aus. Der Schock saß tief, wenngleich mich der Umstand, wie stark Bochum hier auftrat, nicht wirklich wunderte. Mit einem 1:5 in Aue stand der höchste Auswärtssieg nach 19 Jahren zu Buche, durch die Verpflichtung von zehn neuen Spielern und einem großen Umbruch kommt das sicherlich nicht von ungefähr. Umso frustrierender wurde der Blick auf die Träger des Brustrings, die die selben Fehler machten, wie in der vergangenen Spielzeit. Nach „besser machen“ sah es vorerst nicht aus.
Nichts wollte gelingen, nicht einmal ein normaler Einwurf. Gotoku Sakai stand an der Seitenlinie vor der Bochumer Fankurve, da rutschte ihm der nasse Ball aus den Händen. Stellvertretend für das ganze Spiel, was dem VfB endgültig aus der Hand entgleiten sollte. Komplett ohne Chancen waren sie ja nicht, beinahe hätte Oriol Romeu seinen Fehler wieder gut gemacht, mit einem satten Distanzschuss aus der zweiten Reihe, wenige Zentimeter trennten unseren Neuzugang vom Ausgleich.
Keine Aussicht auf Besserung
Was ist nur mit Sven Ulreich? Eine weitere Unsicherheit kostete uns fast schon vor der Halbzeitpause noch das 2:0 der Bochumer, tief durchatmen und darauf hoffen, dass Armin Veh die richtigen Worte finden möge. Es ist nicht leicht, nach einer völlig missratenen Saison unter dem kritischen Blick der Fans etwas Brauchbares zu machen und vor allem die Köpfe wieder frei zu bekommen. Ich hoffe, er ist dem Druck gewachsen, in diesem Spiel und in allen, die noch kommen. Wir alle wissen, wie stürmisch es am Wasen werden kann.
Beunruhigt ging es in die Halbzeitpause, voller Sorge, es würde am Ende eben nicht „irgendwie gutgehen“, wie die meisten formuliert hatten. Die Tatsachen waren ernüchternd: seit der neunten Minute lag man zurück und wusste seitdem nicht viel mit dem Ball anzufangen, vorausgesetzt, man hatte ihn denn mal. Immer wieder gefährliche Vorstöße der Bochumer, eine wackelige Abwehr und ein nervöser Torwart. Nicht gerade die besten Voraussetzungen für den Pflichtspielauftakt mit dem härtesten Los aller Bundesligisten.
Ein wenig Hoffnung durfte man ja noch haben, es war ja noch nicht komplett verloren. Einst lag der VfB ja auch einmal wie erwartet mit 0:2 in Dortmund zurück. Beim Gedanken als das Spiel des Jahres stellen sich uns bis zum heutigen Tage die Nackenhärchen auf, auch wenn ich selbst diesem historischen Tag leider nicht beiwohnen konnte. This is why we love football. Wenn ich mir den aktuellen Spielverlauf anschaue, ist man von jenen glücklichen Tagen weit entfernt.
Schon zu spät?
Nur langsam nach Wiederanpfiff füllte sich das nicht ganz ausverkaufte Stadion mit jenen, die in der Pause die Imbissstände oder sanitären Anlagen aufgesucht hatten. Direkt vor dem Gästeblock schlug Daniel Didavi eine weitere Ecke, Nummer fünf in der Eckballstatistik. Alles ging so schnell, dass man kaum hinterher kam. Das war doch eine Ecke für uns? Das war mir zu hoch. Wie bringt es ein Bundesligist, mit nicht einmal unbedingt limitierten fußballerischen Qualitäten fertig, nach einer eigenen Ecke innerhalb weniger Sekunden einen Konter gewähren zu lassen?
Danny Latza, Stanislav Sestak und schließlich ein weiteres Mal der unbändige Simon Terodde. Klingt schnell, war es auch. Sven Ulreich war erneut überwunden, die Tribüne vibrierte. Es stand tatsächlich 2:0 für die Gastgeber, und das noch nicht einmal unverdient. Der Jubel der anderen, nichts ist markerschütternder als jener Aufschrei, der für die einen pures Glück und für die anderen der reine Horror ist. Nicht einmal zum Kopfschütteln hatte ich noch die Kraft, ich starrte einfach nur aufs Spielfeld und die blau-weiße Jubeltraube, auf die begeisterten Fans, und auch auf den völlig erstarrten Gästeblock.
Das tat weh. „Ihr könnt nach Hause fahren“ war nur der Beginn einer beispiellosen Sammlung an hämischen Gesängen voller Schadenfreude und Spott. Würden wir es denn so viel anders machen? Was als Fußballfan normal ist, fällt im Moment des Schmerzes selbstredend schwer, welcher VfB-Fan wollte jetzt schon gerne hier sein? Nichts, was man von unserer Mannschaft sah, konnte einem auch nur im Ansatz Mut machen, weder für dieses Spiel noch für die Bundesligasaison, die noch nicht einmal angefangen hat.
Der Blick in den Abgrund
Möge ein Loch sich im Boden auftun und uns verschlingen. Oder noch besser: der Wecker klingelt und man hat gewissheit, dass das hier nur ein ganz übler Traum ist. Vier Tage später hat der Wecker noch nicht geklingelt. Nur der harte Gern sang unbeirrt weiter, in der blinden und auch naiven Hoffnung, sie würden erhört werden. Wer genug gesehen hatte, sah weiter – und schwieg. Verbittert, frustriert und ein weiteres Mal bitter enttäuscht. Wie soll man einen 0:2-Rückstand wieder wett machen, wenn man doch gedanklich überhaupt nicht da ist?
Sich das Spiel Tage später noch einmal in kompletter Länge und all seiner Grausamkeit anzuschauen, gehört zu den schwersten Momenten nach einem solchen Spiel. Es wurde stiller und stiller im Gästeblock, an den ich doch all die Jahre so gerne zurück gedacht hatte, während es im Rest des Stadions immer lauter wurde. Sie feierten, und das, wie man leider zugeben muss, völlig zurecht. Vor zwei Jahren war das Duell eine recht klare Angelegenheit, mit welcher Dominanz man einst in solch eine Partie gegangen war, ist schon seit einiger Zeit Teil einer erfolgreicheren Geschichte.
Das Spiel hatte ich nach einer Stunde schon längst abgehakt, zu behäbig der Auftritt der Cannstatter, zu ideenlos das Spiel, das man doch laut eigener Aussage unbedingt erfolgreich gestalten wollte, zu frustrierend der Gedanke, schon in der ersten Runde die Segel streichen zu müssen. Immer wieder kamen die Bochumer und wollten das Ergebnis noch höher schrauben. Nur eine Chance hätte ich noch für unsere Jungs gesehen: mindestens zwei Platzverweise für die Gastgeber.
Geknickt und geächtet
Vielleicht wäre es ja noch einmal spannend geworden, wenn der für Martin Harnik eingewechselte Timo Werner nach Daniel Didavis Flanke den Ball nicht an den Pfosten gesetzt sondern den Anschlusstreffer markiert hätte. Vielleicht wäre es in den letzten 15 Minuten doch noch gut gegangen. Vielleicht wusste der Junge das aber, dass hier die Nerven mitspielen, kann man noch nicht einmal ernsthaft dem Burschen verübeln.
Nur noch wenige Minuten bis zum Ende. Der Blick Richtung Bochumer Heimkurve tat weh, so viel Freude zu sehen, nachdem man gut drei Monate nicht beim Fußball war, diese Sehnsucht, in den heimeligen Schoß der Cannstatter Kurve zurück zu kehren und an erfolgreichere Tage anzuknüpfen, die schnell das vergessen machen, was hinter uns liegt. Hier und jetzt war der VfB drauf und dran, schon in der ersten Pokalrunde auszuscheiden und sich bis auf die Knochen zu blamieren – und damit auch uns!
Als wäre das alles nicht schon bitter genug gewesen, setzten die Heimfans noch einen drauf. Vor gut einem Monat noch in den Medien rauf und runter diskutiert, hier erneute Realität: „So gehen die Bochumer, die Bochumer gehen so“, gefolgt von dem traurigen krummen Buckel, der unsere weiß-rote Fanszene darstellen sollte. Geknickt und geächtet, ins Mark getroffen. Einige schmunzelten, da es in der Tat für knapp 24.000 Zuschauer recht laut war, einige andere mussten auf die Zähne beißen. Was bringt denn Pöbeln noch? Den Spott mussten wir uns anhören lassen.
Eine lautstarke Quittung
Schließlich war es vorbei. Endlich Abpfiff. Als wäre alles nicht schon unerträglich genug gewesen, so musste der Stadionsprecher selbstverständlich noch einen draufsetzen. Auf der Anzeigetafel flimmerten die Ergebnisse der anderen Pokalpartien durch, großer Jubel beim heimischen Publikum brandete auf, als er meinte, dass sich am Samstag alle Favoriten durchgesetzt haben. Die Freude war groß auf Seite der Bochumer, doch wer konnte es ihnen denn verdenken? Auf die denkbar schlimmste Art und Weise bekamen wir ein weiteres Mal zu spüren, wie bitter der Fußball manchmal für einen Fan sein kann.
Lange waren sie in der Mitte des Spielfelds stehen geblieben. Sie wussten genau, was kommt. Hatte man ihnen noch nach dem Aufwärmen an gleicher Stelle wohlwollend zugejubelt, vermochten sie nun kaum die Courage aufbringen, sich denen zu stellen, die Woche für Woche dabei sind, die sich zurecht fragen, wie es so weit kommen konnte. Sie waren weit weg, doch vermochte man schon aus großer Distanz die Angst in ihren Augen zu sehen, vor allem vor dem, was unmittelbare Konsequenz eines derart schändlichen Auftrittes war.
Viel habe ich schon erlebt in den letzten Jahren, viele Erinnerungen an laute Pfiffe, aggressive Pöbeleien bis hin zu wutentbrannten Protestaufläufen vor dem Stadion. Für gewöhnlich wohnt den ersten Wochen der Saison noch ein gewisser Kredit inne – in diesem Jahr gab es ihn nicht. Alles verspielt innerhalb von 90 trostlosen Minuten. Der Gästeblock bebte vor Wut, schnaubende Schimpftiraden und der sich entladende Frust der Treuesten.
Wer den Schaden hat…
Lange nachdem die Mannschaft feige in die Kabine zurück gekehrt war, saß ich noch auf den Betonstufen, inmitten von weißem und rotem Konfetti. Wie eine große Feier hatte es ausgesehen, mein Gefühl und der Blick auf die Bochumer Fankurve sagte mir etwas anderes. Sie zogen alle Register, mit Humba und allem Drum und Dran. Eigentlich sollten wir das sein. Eigentlich sollten wir in die nächste Runde einziehen. Eigentlich waren wir der Favorit. Eigentlich.
Schlussendlich gab es noch Applaus für die auslaufenden Bochumer, die noch ein paar Runden auf dem Feld drehten – und zwar Applaus aus dem Gästeblock. Wenn Häme und Spott sich breit machen, ist es für alles offenbar zu spät. Geknickt verließen wir den Ort der Schande, keine Zeit und keine Lust, sich vernünftig von jenen zu verabschieden, auf die man sich so lange Zeit so sehr gefreut hatte.
Still und leise setzte ich mich hinten auf den Rücksitz der geliehenen S-Klasse. Felix’ Bruder Fabi hatte noch gescherzt, eine integrierte Massage-Funktion würde mich nach dem Ausscheiden sicherlich entspannen, er sollte Recht behalten. Viele Bilder galt es zu bearbeite, Andi unterstützte uns bereitwillig mit der Zweitkamera, die wir zur Sicherheit mit hinein genommen hatten, man weiß ja nie, wie bei Pokalspielen vor Ort entschieden wird, ein gerissenes Spiel mit dem Feuer, das werden meine Fotografenkollegen sehr genau wissen.
Beängstigende Aussichten
Nachts um elf erreichten wir unser Zuhause. Körperlich entspannt, aber innerlich angespannt, weiß man doch nicht, was man nun davon halten solle. Ein paar Tage sind seither schon verstrichen, der Frust hat sich ein wenig gelegt und die klaren Gedanken konnten gefasst werden. Mein Fazit für den erwarteten Saisonverlauf fällt allerdings entsprechend vernichtend aus. Damit werde ich sicherlich nicht alleine dastehen.
Maximal fünf Punkte bis zur Winterpause, beliebtestes Prügelopfer der Liga, mindestens 20 Gegentore in den ersten sechs Spielen und das recht wahrscheinliche direkte Absteigen. Wohlgemerkt beginnt die Saison erst am kommenden Sonntag, in Gladbach. Schon jetzt schreibe ich die Saison ab, zu frustrierend ist das, was ich in Bochum mit ansehen musste. Es krankt und fehlt an allem, ohne Aussicht auf Besserung. Dass Bochum nur ein Ausrutscher war, und dass es doch „selbstverständlich“ ist, die Mannschaft habe sich unter dem alten/neuen Trainer noch nicht ganz gefunden, lasse ich nicht durchgehen.
Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, entspannter zu werden und nicht immer gleich den Teufel an die Wand zu malen. Leicht macht es mir der Verein meiner Wahl nicht gerade. In unserem Wohnzimmer hängen zahlreiche Fotos, von internationalen Reisen, von tollen Momenten mit unserem VfB, darunter ein fast vollständig signiertes Jubelbild auf dem belgischen Rasen in Genk. Wehmütig schaue ich darauf. Es waren wundervolle Jahre.
33 Jahre, gebürtig aus Leipzig, seit 2010 wohnhaft in Stuttgart – Bad Cannstatt. Dauerkartenbesitzerin, Mitglied, ehemalige (Fast-)Allesfahrerin und Fotografin für vfb-bilder.de. Aus Liebe zum VfB Stuttgart berichte ich hier von meinen Erlebnissen – im Stadion und Abseits davon.
Mehr über mich
Neueste Kommentare