Ungläubig stand ich da und schüttelte den Kopf. Gut 3.999 taten es mir gleich. Wieviele unzählige Male wir in den letzten Jahren am Ende dastanden wie die begossenen Pudel, wir wollten nicht glauben, dass ein weiteres Spiel ohne Not verloren wurde. Erneute Fassungslosigkeit – aber dieses Mal doch so anders. 90 Minuten für die Geschichtsbücher, ein wirres Spektakel hatte gegen 17:25 Uhr ein glückliches Ende. Die allermeisten Brustringträger, die sich auf den Weg in die Europastadt gemacht hatten, zückten am Ende das Smartphone und machten ein Foto. Das Motiv war stets das gleiche. Hoch über unseren Köpfen war das Ergebnis zu lesen. Vier zu Fünf.
Gliederschmerzen. Heiserkeit. Erschöpfung. Der Tag danach. Mit einem Lächeln im Gesicht wachte ich auf und wurde mir bewusst, dass ich es nicht einfach nur geträumt habe. Was ist es, weshalb wir jede Woche zum Fußball fahren? Manch einer, weil er bereits vom Vater als kleiner Bub’ mitgenommen wurde, manch anderer, weil er sich hier mit seinen besten Freunden trifft. Und möglicherweise wurde an diesem Samstag eine ganz neue Generation von Brustringträgern geprägt. Die Leidenschaft treibt uns an, in dem wissen, zu welchen Glücksgefühlen dieser Verein imstande ist.
Es gibt so viel zu erzählen. Und dennoch weiß ich nicht, wie. Eine rationale Erklärung für diese Partie gibt es nicht. Eine Kurzfassung davon allerdings auch nicht. An diesem sonnigen Sonntag ringe ich ein weiteres Mal um die Worte, etwas zu beschreiben, das im Grunde unbeschreiblich gewesen ist. Vielerorts vernahm man Dankbarkeit, bei diesem historischen Spiel dabei gewesen zu sein, man müsse es erlebt haben, blöd nur für jene, die daheim geblieben waren. Für mich eine mehr als angemessene Entschädigung, für das verpasste 4:4 in Dortmund.
Das S steht für Spektakel
Als wäre das 3:3 im vergangenen Heimspiel gegen Leverkusen nicht schon verrückt genug gewesen. Welch tolle Moral, aus einem herben Rückstand noch einen Punkt zu holen, das Bedauern wirkte noch lange nach, dieses Spiel nicht doch noch gewonnen zu haben. Die große Sehnsucht danach, nach einem Rückstand mal in den letzten Minuten eine Partie in einen Sieg zu drehen. Welche kurze Zeit wir dafür warten mussten, konnte ja keiner ahnen.
Der Blick auf die Uhr verrät mir, dass ich mich sputen sollte, spät Nachmittags entstehen diese Zeilen, wohlwissend, mit welcher Spannung dieser Spielbericht bereits erwartet wird. Wer glaubt, ein solcher Irrsinn würde sich recht schnell und einfach schreiben, der irrt. Im Gegenteil: je mehr es zu erzählen gibt, und je mehr Emotionen (wortwörtlich) im Spiel waren, desto schwieriger wird es, die Gedanken zum digitalen Papier zu bringen.
Sich die Highlights und Tore immer wieder anschauen, kein Problem – andere daran Anteil haben zu lassen, was und wie man es erlebt hat, steht auf einem anderen Blatt, auf einem der vielen, die ich bereits für diesen Blog mit Herzblut gefüllt habe. Die Gänsehaut ist sein gestern Nachmittag nicht verschwunden und wird noch lange nachwirken. Ich begebe mich gedanklich nun noch einmal auf den Weg zurück nach Frankfurt, und durchlebe – mit euch, liebe Leser – noch einmal ein denkwürdiges Spiel.
Ein Blick zurück – oder auch zwei
Viel Glück und Geschick würden notwendig sein, das anstehende Auswärtsspiel positiv zu gestalten. Ich hatte nie verlangt, es gleich mal zu übertreiben. Wir haben mittlerweile gelernt, keinen einzigen Gegner mehr zu unterschätzen. Wir haben zu viel gesehen, zu viele Rückschläge erlebt und zu viele Punkte in die Hände der Gegner geben müssen. Hinter uns liegt keine einfache Zeit, auch trotz der Emotionen und des absoluten Glücksgefühls der letzten 24 Stunden würde ich nicht sagen wollen, dass der Bann nun gebrochen ist. Es gibt noch einiges aufzuholen.
Nur äußerst ungern denke ich zurück als den letzten Ausflug nach Mainhattan, wie es von Einheimischen gerne genannt wird. Eines von vielen Spielen im Abstiegskampf 2013/2014, dass man in den letzten Minuten noch verloren hatte, der Tag, an dem mein ganz persönliches Fass überlief und mittendrin kein Platz mehr war, den Frust einfach herunterzuschlucken.
Viel lieber denke ich da an die Saison davor, die Geburtsstunde von Alexandru Maxim als etatmäßiger Standardexperte. Es war das letzte Mal, das der VfB nach einem Rückstand noch gewann. Das war am 17. März. Letztes Jahr. Lange her. Viel war passiert seither, doch lediglich das genau einen Monat später folgende DFB-Pokal-Halbfinale gegen Freiburg schwang sich noch auf zu einem Highlight, meinem bisher größten Moment wurde Platz eins in meiner Liste der zehn besten Spiele zuteil. Zumindest bis gestern.
Über den Dächern Frankfurts
Welch angenehmes Privileg, direkt vor der Haustür abgeholt zu werden. Alles war am frühen Morgen gerichtet worden, dabei wurden die drei (!!) Tickets als erstes eingepackt. Da Kumpel und Fotografenkollege Jonas bedingt durch seine Urlaubsplanung doch nicht konnte, überließ er Felix seine Karte für die Gegentribüne, mit bester Sicht auf den Gästeblock, der mit gut 4.000 Stuttgartern, verteilt auf Unter- und Oberrang, gut voll werden würde. Ein vermeintlich entspannter Tag in der hessischen Großstadt stand uns bevor, und obs am Ende zu drei Punkten reicht oder nicht, liegt ohnehin nicht in unserer Hand – auch, wenn wir das manchmal glauben.
Fest umklammert hielt ich meinen roten Thermobecher mit Zitronentee, derzeit sind viele im Büro gesundheitlich angeschlogen, hoffentlich erwischt es mich nicht auch noch, daher galt es, gleich präventive Maßnahmen zu ergreifen. Am Autohof Bruchsal luden wir noch Karo ein, die ein Teil unserer sechsköpfigen Reisegruppe darstellte. Schon bald sichteten wir die Wolkenkratzer am Horizont, die Aufregung stieg, berechtigte Hoffnungen auf einen Auswärtssieg allerdings nicht.
Unser erster Weg führte uns in die City, das erste Ziel war der Maintower hoch über den Dächern Frankfurts. Für mich persönlich nichts unbekanntes, gut zwölf Jahre ist es her, als ich schon einmal hier oben stand. Oft war ich zu dieser Zeit bereits in der Metropole am Main, ins Stadion schaffte ich es aber erst vor zwei Jahren. Schnell noch ein Imbiss am Boden und es wurde Zeit, aufzubrechen.
Blind gefolgt
Zurück am Hauptbahnhof sichteten wir bereits zahlreiche Eintracht-Schals und gesellten uns unauffällig zu ihnen, sie würden ja schließlich wissen, wo es lang geht, im Gegensatz zu uns. Ein fataler Fehler. Der Gedanke, dass eine S-Bahn Richtung Wiesbaden die richtige Richtung wäre und bestätigt durch jene Fußballfans, die eingestiegen waren, sprangen auf wir wortwörtlich auf den Zug auf – und stellten schon bald fest, dass wir in der falschen S-Bahn gelandet waren. Eine Station später, in Franfurt-Griesheim, stieg die Meute wieder aus. Keiner hatte eine Ahnung, keiner wusste, wo es lang geht. Und ihr wollt Frankfurter sein?
Mein Puls schnellte hoch. Wie kann es denn sein, dass so viele Menschen in die falsche S-Bahn einsteigen? Zwei Gedanken schossen mir durch den Kopf: die Straßenbahnen, die üblicherweise die Leute zum Stadion bringt, fuhr an diesem Wochenende nicht und zwang alle zum Umsteigen auf die S-Bahnen. Darüber hinaus waren wir ganz offensichtlich nicht die einzigen, die ein paar Frankfurtern hinterher liefen, im glauben, diese würden es ja ganz genau wissen.
Panik machte sich breit, als ich die Laufschrift „Zug fällt heute aus“ bei der nächsten planmäßigen S-Bahn zurück Richtung Hauptbahnhof las, eine Viertelstunde sollten wir noch warten. Dieser Umweg kostete Zeit, viel Zeit. Am Hauptbahnhof waren nun nur noch mehr Menschen unterwegs, das Chaos nahm seinen Lauf. Noch einmal wollten wir den Fehler, anderen hinterher zu laufen, nicht mehr machen. „Die nächste Bahn nehmen wir“ hatten wir noch optimistisch gesagt.
Im letzten Moment hineingestürzt
Zwei Bahnen, die Richtung Stadion eingefahren waren, sind bereits bis zum Bersten vollgepresst gewesen, an den Türen ging nichts mehr, während im Wageninneren zwischen den Türen vielleicht mit ein wenig Kuschelkurs noch der eine oder andere Fahrgast hinein gepasst hätte. So vergingen die Minuten, der Bahnsteig wurde stetig voller. Die Bahn schien darauf nicht vorbereitet zu sein und ließ das komplette Service- und Ordnungspersonal von der Bildfläche verschwinden. Es grenzt an ein Wunder, dass es hier weitgehend ruhig blieb und keiner auf die Gleise geschubst wurde.
Ein wenig tat es mir ja leid für die Ärmsten, die am Hauptbahnhof noch aus der dritten Bahn aussteigen wollten, die einfuhr. Zwei junge Frauen waren schnell genug, alle anderen hatten keine Chance mehr. Sie wurden sofort zurück gedrückt, mit aller Macht versuchte man, hinein zu kommen. Auch wir bildeten da keine Ausnahme, wir hatten durch das Betreten der falschen Bahn ohnehin schon viel Zeit eingebüßt. Immer wieder ging mein nervöser Blick zur Uhr. Ob es noch reicht?
„Nächste Haltestelle: Frankfurt Stadion“. Endlich. Die dämpfige Wärme in der hoffnungslos überfüllten Bahn entlud sich, als sich die Türen öffneten. Das wäre dann auch geschafft, jetzt aber schnell die Beine in die Hand nehmen und zu den Eingangskontrollen. Dort erwartete uns der nächste Schock, denn dort bildeten sich schon die nächsten Menschenmassen. Erneut der Blick auf die Uhr, nur noch weniger als eine halbe Stunde. Die notwendige Toilettenpause vor dem Anpfiff ließ auch diesen letzten Zeitpuffer schmelzen, fünf Minuten vor Anpfiff stürzte ich dann völlig hektisch in den Block. Puh.
0:0 – Ein Bild mit Seltenheitswert
Zu mir gesellte sich schon bald Mitfahrerin Karo, die fast das gesamte Spiel über an meiner Seite blieb. Felix hatte es sich währenddessen auf der Gegentribüne gemütlich gemacht, und verfolgte von der anderen Seite das farbenprächtige Intro, welches die 4.000 mitgereisten Schlachtenbummler hier auf die Ränge zauberten. Auch mein Kumpel Sandro (unsere kleine Serie hält!) war dabei, wie schon zwei Saisons zuvor, als Alexandru Maxims Ecke die Vorlage gab zum Siegtreffer. Noch heute erinnere ich mich gerne daran, wie wir vor dem Blockausgang sangen und tanzten.
Stimmgewaltig legten wir los, wohlwissend, dass gegen eine Frankfurter Westkurve an einem guten Tag nur schwer anzukommen ist. Armin Veh kehrte mit seiner alten Liebe zurück zu einer anderen alten Liebe, deren Geschicke er drei Jahre lang geleitet hat. Sicher kein einfaches Unterfangen. Punkt 15:30 Uhr pfiff Christian Dingert, mit dem ich einige negative Erlebnisse verbinde, das Spiel an, von dem wir noch unseren Kindern und Enkeln erzählen werden.
Der Ball rollte. Noch stand es 0:0 auf dem Anzeigewürfel – ein Bild mit Seltenheltswert. Keine drei Minuten waren rum, Dreifachchance für den VfB. Hoppla, hier legten sie ja los wie die Feuerwehr. Was eine frühe Führung wert gewesen wäre, zeigt allerdings auch das Negativbeispiel von der Auswärtsniederlage in Berlin. Führt der VfB, verliert er oft noch, liegt er zurück, dann meist sowieso. Es gibt einfachere Aufgaben als das Dasein als Brustringträger.
1:0 – Den Spielverlauf auf den Kopf gestellt
Es kam, wie es kommen musste. Jede Woche aufs Neue bekommt die Eintracht das Echo ihres eigenen Liedguts zu spüren, aus „Hey Eintracht Frankfurt!“ zur Melodie von Pippi Langstrumpf wird stets „Scheiß Eintracht Frankfurt“, da bildeten auch wir Stuttgarter keine Ausnahme. Wie gelassen die Hessen mit damit umgehen, konnte man hinreichend gut erkennen: Pöbeln, Pfiffe und eindeutige Gesten. Die Stufen unter mir vibrierten deutlich, als der Block Arm in Arm gemeinsam hüpfte, ein tolles Bild für Innen- und Außenstehende.
Währenddessen machte sich der VfB ganz gut auf dem Rasen, die Dreifachchance zu Beginn blieb nicht die einzige Möglichkeit in der ersten Viertelstunde, die Offensivbemühungen waren klar auf der Gästeseite zu vernehmen. Dass unsere Jungs zunächst überlegen waren, interessierte die Eintracht nur nicht so besonders. Sie stellten den Spielverlauf einfach mal auf den Kopf und nach 21 Minuten stand es 1:0 für die Hausherren.
Nach einer Ecke war es Alexander Madlung, einer der unscheinbarsten Fußballer Deutschlands, der nach einem Abpraller von der Latte seine rechte Klebe auspackte und den Ball unhaltbar für Thorsten Kirschbaum in die Maschen drosch. Schon jetzt war ich völlig bedient, nichts Grässlicheres gibt es als das Aufspringen von Zehntausenden um einen herum, wenn man auswärts spielt. Da gibst du dir Mühe und machst einen guten Anfang und dann bist du doch (wieder) hinten.
1:1 – Abseits ist nur dann, wenn der Schiedsrichter pfeift
Was nun? Den Kopf in den Sand stecken? Nun galt es, sich an das zu erinnern, was gegen Leverkusen für diesen unglaublichen Schub gesorgt hat. Alles ist möglich, hatte Armin Veh vor einer Woche in der Halbzeitpause zu ihnen gesagt. Ein schlauer Mann. Um mich herum hatte die gute Laune vom Beginn der Partie sogleich einen deutlichen Dämpfer erhalten, jetzt die Massen trotz Rückstands zu mobilisieren, ist auch keine leichte Aufgabe. Und auf dem Platz rangen die Jungs darum, die Zügel wieder in die Hand zu nehmen.
Es gelang ihnen mit jeder Minute mehr, was sich genauso auf die mitgereisten Fans übertrug, von denen viele schon jetzt mit bedächtig hohem Alkoholpegel durch den Block wankten. Takashi Inui verlor den Ball, sofort wurden wir hellhörig, als ob wir geahnt hatten, was folgt. Da lag er ihm nun vor den Füßen, Martin Harnik, der Ball, und das Tor, Auge in Auge mit Felix Wiedwald, der den verletzten Kevin Trapp vertrat. Tor! Toooor! Aber Halt mal, war das nicht Abseits? Der Blick ging zum Linienrichter. Die Fahne blieb unten, die Stimmung nach oben.
Der Ball war von einem Frankfurter gekommen, ob absichtlich oder nicht, spielt in der Auslegung der Abseitsregel nämlich keine Rolle, auch wenn dies eine umstrittene Entscheidung war. Natürlich hatte dies zahlreiche Meinungen zur Folge, das Spiel wäre bei der Entscheidung auf Abseits ganz anders verlaufen. On’ wenn dr Hund ned g’schisse hätt, hätt’r de Has’ g’kriegt. So einfach ist das.
1:2 – Binnen drei Minuten das Spiel gedreht
Wieder klang das wundervolle Lied in unseren Ohren: „Und wenn die ganze Kurve tobt“, mittlerweile kennt jeder den neuen Text, der erst zu Beginn dieser Saison die Runde machte und schnell seinen Weg in die Herzen und Köpfe der Cannstatter Köpfe fand. Und während manche noch über die Auslegung der Abseitsregel diskutierten, war der VfB schon wieder unterwegs in Richtung Frankfurter Westkurve, die mit dem Ausgleich (ähnlich wie wir beim Rückstand) schnell wieder still wurde.
Die Aufholjagd gegen Leverkusen hatte offenbar nachhaltige Wirkung gezeigt. Vor einigen Wochen noch sahen wir geknickte Spieler, die sich nach einem Rückstand oft plan- und ziellos über den Platz schleppten, ohne jede Idee, wie sie das wieder gut machen könnten. Eine Mannschaft wie ausgewechselt, selbst Sercan Sararer, der durch seine Versetzung zu den Amateuren neuen Aufwind bekam, zeigte, zu was er im Stande ist.
Ein paar schnelle, direkte Pässe, die alleine schon den Szenenapplaus wert gewesen waren, endeten in einem laut umjubelten 1:2. Was, was, waaaas? Träum ich oder wach ich? Frust bei der Eintracht, Party im Gästeblock, innerhalb von drei Minuten den Rückstand gedreht. Wie aufregend hier, und doch konnte keiner mit dem rechnen, was noch folgen sollte. Mit lautem Applaus schickten wir sie in die Kabine und begrüßten sie nach 15 Minuten mit eben einem solchen erneut auf dem Feld. Die Führung auch mal ins Ziel bringen, mehr verlangen wir doch gar nicht.
1:3 – Zum Zungeschnalzen schön
Wäre der Pausenpfiff doch gleich der Schlusspfiff gewesen, knapp, aber erfolgreich, ich hätte das am Liebsten sofort so unterschrieben. Und der Fußballgott so: „Warts ab, Mädel, ich quäl dich heut noch richtig!“. Sicherlich kein ganz ferner Gedanke, dass in den zweiten 45 Minuten durchaus noch das eine oder andere Tor fallen könnte. Für wen, wird sich zeigen. Der Ball rollte wieder, diesmal in Richtung Gästeblock, der bestens gelaunt war.
Filip Kostic weiß, zu gefallen. Was ihm noch fehlt: der nötige Erfolg, um als der, als der er geholt worden ist – als Stürmer – richtig im Ländle anzukommen. Bis er sich in die Torschützenliste einträgt, verdient er sich seine Einsätze mit Scorerpunkten und jeder Menge Willen und Einsatz. Sein Ballgewinn leitete einen weiteren von vielen Stuttgarter Angriffen ein, an dessen Ende Christian Gentner mit einem sehenswerten Schlenzer das Traumtor zum 1:3 erzielte. Eskalation, die Zweite.
Mit weit ausgebreiteten Armen rannte er in unsere Richtung, Gotoku Sakai folgte ihm genauso wie Martin Harnik, beide erhoben die Arme und zeigten uns an: „Weiter, weiter, weiter, immer weiter, wir brauchen euch heute!“ Das gibt’s doch gar nicht, das kann man sich im Traum nicht schöner ausmalen.Martin Harnik hatte später in den Interviews gemeint, es sei der Moment gewesen, in dem er dachte, man hätte die Frankfurter jetzt endgültig im Sack. Das dachten wir alle.
2:3 – Sie werden doch nicht…?
Natürlich willst du das Spiel gewinnen, wenn du schon einmal zwei Tore Vorsprung hast. Dass das nicht immer den Sieg bedeuten muss, haben wir schon oft miterlebt, ob auf unserer Seite oder auf anderer Seite. Noch sangen, klatschen, und hüpften wir, ein wirrer Haufen der Freude hatte seinen Spaß im Block 20, der Boden war glitschig und nass von all den Bierduschen, die wir über uns ergehen lassen mussten. Doch wen kümmerte das schon, was gibt es denn Schöneres als das Bejubeln eines Tores.
Wenige Minuten später nach Gentes wunderschönem, vermeintlich vorentscheidenden Tor traf der stark aufspielende Sercan Sararer nur das Außennetz, ein paar wenige im Block jubelten vorschnell. Fast im genauen Gegenzug mussten wir dann aber mit ansehen, wie der Ball neben Thorsten Kirschbaum ins Netz rollte und die Eintracht wieder drin war im Spiel. „Dumm und unnötig“ traf es noch nicht einmal ganz.
Der Versuch, auf Abseits zu spielen, ging schief und sorgte mit einigem Gestocher dann doch noch für – aus unserer Sicht unnötige – Spannung in einer ohnehin schon krassen Partie. Jetzt also 2:3 in der 57. Minute, wo soll dieser Irrsinn denn hinführen? Nirgendwo sonst waren in den anderen Stadien bisher so viele Tore gefallen. Unruhe machte sich breit, sie werden doch nicht…? Oder etwa doch…?
3:3 – Das kann doch nicht wahr sein!
Alex Maier war es gewesen, der seit zehn Jahren das Trikot mit dem Adler trägt und von den eigenen Fans als Fußballgott verehrt wird. Ein wenig verlagerten sich die akustischen Kräfteverhältnisse im Stadion, während es im Gästeblock ein wenig leiser wurde, wurde der heimische Anhang ein wenig lauter. Hier war alles möglich. Nur sollten sie glauben, das hatte Armin Veh gesagt, als sie hoffnungslos zurückgelegen hatten.
Das Tor hatte den Frankfurtern unnötig Auftrieb gegeben, unsere Jungs hingegen waren offensichtlich geschockt und verloren den Faden. Die Angst ging um in unseren Reihen. Kurze Zeit später war Stefan Aigner auf und davon, wieder war der Ball im Tor, nur vier Minuten nach dem Anschlusstreffer folgte nun der Ausgleich. Schockstarre. Aber es hatte sich angedeutet mit dem Tor wenige Augenblicke zuvor, nun war die Eintracht am Drücker.
Ich konnte und wollte es nicht glauben, was ich hier sah. Gerade noch stand es 1:3, jetzt auf einmal 3:3. Wie kannst du als Fan so etwas verpacken? Gerade noch im Freudentaumel mit Leuten gehüpft, die man noch nie gesehen hat, ausgerutscht auf den biernassen Betonstufen, und nun war Stille eingekehrt, die Gesichter wurden länger und länger. Wer im Stande war, Worte heraus zu bringen, müsse aus Jugendschutzgründen zensiert werden.
4:3 – Acht schwarze Minuten
So sehr ich den Verein für Bewegungsspiele auch liebe, so sehr könnte ich ihn verteufeln für die Dummheit und Unüberlegtheit, die er immer wieder an den Tag legt. Und wenn in einer Partie zwei Mannschaften aufeinander treffen, die anscheinend ein „Wir spielen heute alle ohne Abwehr“-Abkommen geschlossen hat, war noch lange nicht das letzte Tor gefallen. Dafür wäre ja die verbleibende Spielzeit von 25 Minuten viel zu schade drum! Die Eintracht hatte noch nicht genug. Es gab Freistoß für die Gastgeber. Mir war beinahe schon klar, was folgte.
Ich sah nur einen der Frankfurter hochsteigen, Thorsten Kirschbaum tauchte in die richtige Ecke ab, und dennoch sprangen gut 45.700 Frankfurter auf und streckten in einem lauten Jubelschrei ihre Hände in die Luft. Ich konnte nicht einmal mehr reagieren, kein Fluchen, kein Kopfschütteln, kein Schreien, nichts. Ich schwieg und starrte einfach nur gerade aus. Ihr kennt das, dieser gefühlte Stich ins Herz, gegen den du nicht das geringste ausrichten kannst, außer tatenlos dabei zuzusehen.
„Das wars!“ dachte ich, ebenso wie ich beim 1:3 noch dachte, es sei geritzt. Doch was bringt das viele Denken schon, wenn du dich wiederfindest in deinem ganz persönlichen Irrenhaus. Was soll man dazu sagen, was soll man denken, wie soll man das verpacken? Acht Minuten hatte es gedauert, dass die Eintracht aus einem 1:3 ein 4:2 machte, drei Tore in acht Zeigerumdrehungen. Es war der emotionale Tiefpunkt. Karo bekam von all dem nichts mit, sie holte sich ein Getränk. Ich wünschte, ich hätte es auch nicht mit ansehen müssen.
4:4 – Ein Spiel ohne Abwehr
Nun sah es also nach einem Sieg für die Frankfurter aus. Wie bitter, ein weiteres Mal standen wir da wie begossene Pudel, ein Gefühl, das wir nur allzu gut kennen aus den zurückliegenden zwölf Monaten. Wirklich viel wollte in der Folgezeit nicht mehr zusammenlaufen. Frustriert und schockiert schaute ich auf den Anzeigewürfel und dachte sehnsüchtig seufzend: „Was wäre, wenn wir noch 4:5 gewinnen? Warum eigentlich nicht?“ – schnell musste ich mich schütteln, welch verrückte Vorstellung, aber sie gefiel mir dann doch und ließ mich nicht mehr los.
Die Minuten gingen dahin, die Phase, in der die Tore im Minutentakt gefallen waren, war vorbei. Ein wenig frischer Wind würde vielleicht gut tun, dachte sich Armin Veh, und brachte Timo Werner ins Spiel. Als ob er geahnt hätte. Nach gut einer Viertelstunde ohne Tore, fast schon langweilig für den neutralen Zuschauer, lief der junge Bursche allen davon. Eine Flanke würde es werden, dachte man zunächst. Zum Abspielen war es zu spät, also zog er direkt drauf aufs Tor. Mitten ins Glück.
Flatsch, die nächste Ladung Gerstensaft landete auf meinem beerenfarbenen Kapuzenpulli. Egal, den kann man waschen. Das war der Ausgleich, das war Timo Werner, das war der erneute Weckruf für 4.000 völlig euphorische Stuttgarter. Das glaubst du auch nur, wenn du dabei warst. Karo war mittlerweile vom Bierholen zurück gekehrt und meinte gerade noch kurz zuvor mit einer fast schon verzweifelten Stimmlage „Kommt schon, ein Tor müsst ihr noch machen, bitte!“ – Timo Werner muss das gehört haben.
4:5 – Momente für die Ewigkeit
Ganz fest umarmte ich sie und beobachte mit einer Ganzkörpergänsehaut, wie der Block vor Freude wankte. Lachend wandte ich mich zu ihr und sprach „Kommt schon, ein Tor müsst ihr noch machen, bitte!“, vielleicht funktionierts ja nochmal? Vier Minuten vor Schluss, Freistoß für den VfB vor einem völlig hysterischen weiß-rotem Mob, der völlig außer Rand und Band das Unmögliche erzwingen wollte. Filip Kostic stand bereit, hochkonzentriert, schnell noch den Rotz von der Nase abgewischt, da wurde das Trikot zum Taschentuch.
Ein paar wenige Schritte Anlauf, eine hohe Flanke. In Bruchteilen von Sekunden schossen mir tausend Gedanken durch den Kopf, was nun passieren könnte. Fällt jetzt wieder ein Tor? Wäre das dann der Sieg? Fällt doch kein Tor? Schießt Frankfurt dann noch eins? Verlieren wir dann? Was wäre, wenn…? Zu Ende bringen konnte ich diesen Gedanken nicht mehr. Ich verlor den Faden meiner Gedanken gleichermaßen wie den Boden unter meinen Füßen. Schwerelosigkeit. Willkommen im Himmel.
Der junge Felix Wiedwald war noch mit der Hand dran gewesen, mehr als abklatschen konnte er jedoch nicht mehr. Das letzte Mal, als es ein ähnliches Spektakel gegeben hatte (ironischerweise auch mit VfB-Beteiligung) traf auch er zum letzten Paukenschlag: Christian Gentner hielt den Schlappen hin und drosch das Ding unter die Latte. Es sind solche Momente, für die man lebt, in denen jede Strapaze vergessen scheint und es nichts Schöneres gibt als diesen einen Augenblick.
Das glaubt dir doch kein Mensch
Un. Fass. Bar. Hier stand keiner mehr da, wo er noch zehn Minuten zuvor gestanden hatte, alles mischte sich einmal komplett durch. Die völlige Eskalation, fünf Minuten vor Ende der regulären Spielzeit. Meine Knie zitterten, die Nerven zum zerreißen angespannt, mein weiß-rotes Herz schlug schneller und schneller. Dieses Spiel wird definitiv als eine der nervenaufreibensten der jüngeren VfB-Geschichte eingehen. Nichts klang an diesem Nachmittag lauter als unser Lied in den letzten paar offiziellen Spielminuten, das mit jedem einzelnen gesungenen Wort die Nackenhaare aufstellte.
In solchen Momenten ist der Wunsch nach einem vorzeitigen Abpfiff unheimlich groß, wer will es uns auch verdenken, wir haben hier zugesehen, wie der VfB zwei Mal zurück gekommen war und nun drauf und dran war, die Partie zu gewinnen. Sicher sein konnte man sich natürlich nicht, wieviel in ein paar wenigen Minuten passieren kann, haben wir zwischen der 57. und 65. Minute erlebt. Mit Sicherheit drohte uns eine lange Nachspielzeit. Gesagt, getan: Fünf Minuten Nachschlag an einem denkwürdigen Nachmittag.
Einige Male hatte ich diese Aussage nach dem Spiel gehört, wie lange fünf Minuten doch sein können. Mit Glück hatte Christian Dingert zu Beginn der Nachspielzeit keinen Elfmeter gegeben, doch wer hätte sich nach einer solchen Partie wirklich über ein 5:5 beschweren dürfen? Sie zogen sich ewig lang. Noch einmal war Martin Harnik unterwegs, er nahm Timo Werner mit, der um ein Haar noch das 4:6 gemacht hätte. Was für ein wirrer Wahnsinn hier, während über uns ein Flugzeug nach dem anderen hinüber flog.
Wahnsinn wider Willen
An der Seitenlinie standen die Ersatzspieler und jene, die bereits ausgewechselt worden waren, von der Bank auf und reihten sich auf und rissen ebenso wie wir Fans die Arme hoch, als es um 17:25 Uhr vorbei war. Erleichterung und Freude, ein weiß-roter Jubelhaufen kannte nun kein Halten mehr. Moral bewiesen, den Sieg geholt, Flüche besiegt und obendrei Geschichte geschrieben. Es gibt Dinge auf dieser Welt, die man nicht erklären kann, und Momente im Leben, die man anderen nicht beschreiben kann. Ich hoffe, ich bin auch nur annähernd mit diesen Worten heran gekommen.
Lauter Applaus wartete auf sie, als sie langsam Richtung Gästeblock getrabt waren. Vor 70 Tagen sah die Welt noch anders aus, die blanke Wut schlug ihnen entgegen und keiner wollte glauben, dass diese als „Mannschaft“ bezeichnete Anhäufung von Einzelspielern zu mehr als Abstiegskampf im Stande ist. In den letzten Wochen bewies sie uns das Gegenteil und hat uns einander ein weiteres Stück näher gebracht. Von Kuschelkurs kann noch keine Rede sein, doch wenn alle an einem Strang ziehen, kann Großes erreicht werden.
Wieviele ungläubige Blicke meine Augen erfasst hatten, konnte ich schon bald nicht mehr zählen. Umarmungen und High Fives wurden freizügig verteilt, die Reaktion jener, die an mir vorbei liefen, war stets die selbe: „Was für ein krasser Scheiß“ – oder Ähnliches. Eine Ewigkeit lang verblieben wir noch im Block, einige kamen noch auf mich zu und sprachen mich an auf meine Nebenrolle in der SWR-Doku „Fußballfieber – Der VfB Stuttgart und seine Geschichte“.
Ein Hoch auf uns
Abwandern konnten die mit dem Fanzug angereisten Leute nicht, sie mussten warten, bis die Tore geöffnet und der Weg freigegeben war. Wir blieben in Sichtweite, auch wir wollten noch warten, bis die meisten gegangen waren. Langsam liefen wir zurück, grinsend, aber auch vorsichtig, man weiß ja nie, was in Frankfurt passieren kann, äußerste Vorsicht ist stets ein guter Begleiter auf Reisen an die Stadt am Main.
Mitten durch ein wenig beleuchtetes Waldstück mit engem Dickicht, begleitet von einer ungefährlichen, sondern regelrecht amüsanten und netten Frankfurter Familie, die den Weg zum Bahnhof suchten und wir ihnen als Auswärtige eine sehr viel größere Hilfe waren als deren eigener Orientierungssinn. Am Bahnhof Frankfurt-Niederrad wünschten wir ihnen einen schönen Abend und waren kurz darauf am Auto, das uns schließlich nach Hause bringen sollte. Viele Bilder galt es zu bearbeiten, die Zeit reichte nicht, dafür war die Fahrt fast schon zu kurz.
Es fällt schwer, zu beschreiben, was hängen bleiben wird. Es ist dieses sagenumwobene Gefühl des innerlichen Friedens und jener wohligen Wärme, die einen ausfüllt, wenn man nichts zu beanstanden hat und sich einfach nur freut, dabei gewesen zu sein. Dass ein weiteres Mal die Abwehr nicht existent war, gehört untersucht und verbessert. Aber nicht an diesem Wochenende. Es darf gefeiert werden. Auf all das, wofür wir einstehen und für das, was uns der VfB gibt. Pure Emotionen. Und manchmal auch das Risiko zum Herzinfarkt.
33 Jahre, gebürtig aus Leipzig, seit 2010 wohnhaft in Stuttgart – Bad Cannstatt. Dauerkartenbesitzerin, Mitglied, ehemalige (Fast-)Allesfahrerin und Fotografin für vfb-bilder.de. Aus Liebe zum VfB Stuttgart berichte ich hier von meinen Erlebnissen – im Stadion und Abseits davon.
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