“Ich glaub, es geht schon wieder los…” – keine andere Melodie klingelte in unseren Ohren häufiger als jene sieben Worte. Setzt der VfB nun tatsächlich nahtlos das fort, was uns letzte Saison so unzählige Punkte gekostet hat? Wie ordnet man ein Spiel ein, von dem man glaubte, man würde es (gemessen an der Schande von Bochum) haushoch verlieren, und das ein weiteres Mal in wenigen Minuten zum Faustschlag in die Magengrube wurde? Die wichtigste Frage allerdings: wie geht es weiter?
Offiziell wissen wir, wie es weiter geht: Heimspiel, Samstag, 15:30 Uhr, gegen die Aufsteiger aus Köln. Inoffiziell: der Angstgegner ist zu Gast. Drei Punkte? Ausgeschlossen. Das dachte ich auch vor dem Bundesligaauftakt in Mönchengladbach. Lange Jahre hatte der VfB hier gut ausgesehen, unvergessenes Spiel in der vorletzten Saison, als ein Gladbacher Eigentor den Weg zu unserem Auswärtssieg ebnete und uns damit viel Freude bereitet hatte.
Was ich vor einer Woche in Bochum zu sehen bekommen hatte, zertrampelte schnell und lieblos das zarte Pflänzchen der Hoffnung, es würde nicht eine weitere Horror-Saison werden, nachdem wir die letzte gerade so noch überstanden hatten. Die blutleere Vorstellung lehrte mich, künftig besser nichts zu hoffen, es sei denn, es gibt tatsächlich Grund dazu. In Gladbach kam es dann doch ganz anders – und irgendwie auch nicht.
Der frühe Vogel fährt zum Auswärtsspiel
5:30 Uhr. Der Wecker klingelte. „Ach leck mich doch…“ brabbelte ich völlig übermüdet unter meiner Bettdecke hervor. Welch unchristliche Uhrzeit, doch beschweren sollte ich mich nicht, denn Auswärtsfahrten gehören zu den schönsten Unternehmungen an einem Wochenende. Auch wenn das bedeutet, dass man dafür mal weniger Schlaf bekommt. Während Felix noch ein wenig schlummerte, lief ich schon umher und packte die letzten Sachen zusammen. Vesper, Laptop, Eintrittskarten, Kameras und natürlich die ausgedruckte Mail von der Gladbacher Geschäftsstelle.
Los ging es ein weiteres Mal in Weinstadt-Beutelsbach mit Stammfahrer Gerd, unsere erste gemeinsame Ausfahrt in der neuen Saison. Von allen Seiten umzingelt vom sanften Optimismus meiner Mitfahrer, schließlich sieht nicht jeder die neue Saison so rabenschwarz wie ich. Wenn ich ohne Erwartungen nach Gladbach aufbrechen würde, vielleicht würde es dann auch weniger weh tun. Dass wir in Gladbach schon immer recht gut ausgesehen hatten, wollte ich nicht hören.
Schnell noch den gemeinsamen Kumpel Christoph in Backnang abgeholt, schnell waren wir unterwegs in Richtung Nord-West. Dieses wirre Kribbeln im Bauch, wenn die Straße vor dir liegt, du darüber nachdenkst, wie das Spiel wohl werden würde, wieviele Fans im Block sind, welche Lieder gesungen werden würden und wie dir deine Mannschaft nach 90 Minuten entgegen treten würde: lächelnd und erhobenen Hauptes oder enttäuscht und geknickt? Wirst du klatschen oder wirst du pfeifen?
Kulturprogramm bei der Loreley
Jedes Spiel schreibt seine eigenen Geschichten. Geschichten voller Glück und voller Trauer, zwischen Begeisterung und Ernüchterung. Verrückt, chaotisch, lustig, entspannt oder auch aufregend, Auswärtsfahrten können vieles sein, selten sind sie aber langweilig. Auf dem Weg zu den unterschiedlichsten Stadien haben wir – gerade mit Stammfahrer Gerd – schon einiges erlebt. Zu fast jedem Spiel gibts ein interessantes Kulturprogramm, von Hand ausgesucht und mit Hingabe organisiert.
134 Tage ist es her, als die Borussia aus Mönchengladbach zur Partie einlud. Einst hieß das Kulturprogramm Roermond auf der niederländischen Seite. Es fiel schwer, den Ausflug zu genießen, war ich mit dem Kopf nur mit dem Abstiegskampf und dessen möglichen Konsequenzen beschäftigt. Das letzte Gastspiel zählte zu den Brocken, die es zu bewältigen galt, um am Ende nicht abzusteigen. Am Ende stand es 1:1, ein weiteres spätes Gegentor verdarb die frühe Freude über einen potenziellen Auswärtssieg – wie so oft in der zurück liegenden Spielzeit.
Nochmal nach Roermond ist ja auch irgendwie doof, oder? Tagelang wurde gebrütet, abgestimmt, überlegt und schließlich entschieden: es geht zur Loreley an den Mittelrhein. Dabei fuhr ich erst kurz vor Saisonbeginn mit dem Zug vorbei, richtete meinen Blick auf steile Felswände und prächtige Burgen und dachte mir: „Hey, schön hier! Das sollte man sich mal näher anschauen!“ – gesagt, getan. Beabsichtigt war das dabei überhaupt nicht.
Aufstiegskampf und Abstiegskrampf
Steile Treppenstufen, so hoch, dass sie mir vom Boden bis zum Knie reichten, hunderte Meter bergauf. Oh Gott, was habe ich mir nur dabei gedacht? Und das mit einer quengelnden Achillessehne (diesmal neuerdings rechts statt monatelang links) und nicht gerade mit einem als „Wanderschuhe“ einzustufenden Schuhwerk. Doch der Aufstieg lohnte sich, ein toller Ausblick von oben über das Mittelrheintal. Auf dem Weg nach unten konnte sich Felix den zynischen Kommentar „So, der Abstieg hat begonnen“ nicht verkneifen – ob das jetzt so hilfreich ist?
Nach einer kurzen Vesperpause brachten wir das letzte Stück Wegstrecke hinter uns, ein wenig Stau bremste uns aus, nicht gerade beruhigend für mein angespanntes Nervenkostüm. Angekommen am Borussia-Park zeigte sich die Wettervorhersage mit null Prozent Regenwahrscheinlichkeit von ihrer besten Seite und schickte ein paar Tropfen auf die Erde. Die letzten Meter zum Gästeblock, Kamera und die dazugehörige Erlaubnis vorgezeigt, und ab ging es in den Gästeblock, der schon recht gut gefüllt war. Kein Wunder, für ein Auswärtsspiel waren wir schon ziemlich spät dran.
Bei Kumpel Sandro kam ich schließlich auf Höhe der Mitte zum Stehen. Es wird Zeit für eine neue Serie, meinst du nicht auch? Die Sitzplätze waren noch spärlich besetzt, aber der Stehplatzbereich war bereits gut gefüllt, nur noch in den obersten Reihen durfte man sich den Platz tatsächlich noch aussuchen. Erwarten wollte ich eigentlich nichts, und dennoch trug ich die Hoffnung in mir, nach einem bisher schon recht anstrengenden Wochenende nicht mit einer Niederlage in die neue Arbeitswoche zu starten.
Wiedergutmachung war gefordert
Die letzten Minuten vergingen zügig. Die Geister scheiden sich an dem Spiel in Bochum, für manche eine unvermeidbare Angelegenheit und die große Chance, es im Ligabetrieb besser zu machen, für manch andere (mich inbegriffen) der enttäuschende Beginn einer weiteren kräftezehrenden Saison, die uns Fans einiges abverlangen wird, vielleicht sogar noch mehr als in der letzten Spielzeit. Wer nichts hofft, wird auch nicht enttäuscht, richtig? Die große Entspannung wollte sich dennoch nicht breit machen, dafür ist dieser Sport einfach viel zu emotional.
Punkt 17:30 Uhr, das letzte Spiel des ersten Spieltags stand an. Wie immer zeigte der Gästeblock ein prächtiges Intro mit vielen Fahnen, toll eingefangen von Felix, der es irgendwie in den Sitzplatzbereich geschafft hatte. Lassen wir uns mal überraschen, was uns das Spiel bescheren würde. Die Vorzeichen waren in meinen Augen klar: der VfB könne wahrscheinlich einfach nicht besser als das, was sie bei der Pokalblamage in Bochum gezeigt hatten.
Ein für den Monat August verhältnismäßig frischer Wind wehte uns um die Ohren, als die Gladbacher den Ball ins Rollen brachten. Immer wieder sagte ich innerlich zu mir selbst „Sei nicht allzu enttäuscht, wenn das hier schief gehen sollte!“ und sah auf dem nassen Rasen ein Spiel, in dem der VfB mit seinen begrenzten Mitteln versuchte, die Borussia nicht zur Entfaltung kommen zu lassen. Noch funktionierte das ganz gut. Noch.
Kein Grund für großen Optimismus
Etwas verhalten war der Support im Gästeblock, der Stimmungskern war stets – wie sonst immer auch – bei der Sache. Doch jede einzelne Reihe, die ich mit meinen Augen von unten nach oben gewandert war, nahm die lautstarke Unterstützung der gut 2.000 mitgereisten Stuttgarter immer mehr ab. Das Spiel in Bochum hatte Spuren hinterlassen, sowohl bei der Mannschaft als auch bei den Fans, die sich natürlich nicht zu Unrecht fragen, ob der Verein aus den letzten 34 Spieltagen rein gar nichts gelernt habe.
Ein hohes Niveau gab es indes auf dem Feld nicht zu beobachten. Die eng gemachten Räume konnte der Gastgeber nicht nutzen und biss sich die Zähne aus. Zumindest noch kein Gegentor, da freut man sich über jede einzelne verstrichene Minute. Zu wieviel die Mannschaft im nun einzig verbliebenen Wettbewerb im Stande ist, lässt sich nach dem missratenen Pokalauftritt noch nicht mit Bestimmtheit sagen, doch gaben die Testspielauftritte davor (und danach) auch nicht wirklich Grund zum Optimismus.
Ein alter Bekannter saß auf der Haupttribüne, als ein anderer alter Bekannter einen nicht ungefährlichen Konter einleitete. Unter dem wachsamen und kritischen Auge unseres letzten Trainer Huub Stevens machte sich Ibrahima Traoré, der drei Jahre den Brustring getragen hatte, auf den Weg in Richtung Sven Ulreich, auf der rechten Seite war Branimir Hrgota mitgelaufen. Oh Gott, jetzt kommt bestimmt das 1:0 für die Gladbacher… Eine perfekte Grätsche von Daniel Schwaab verhinderte zum Glück Schlimmeres.
Verhaltene Anfangsphase
Das war ziemlich knapp, viel fehlte da nicht zwischen dem langen Bein unseres Innenverteidigers und dem Schlappen des Gladbacher Stürmers, der wenige Tage zuvor in den Europa League Play-Offs zwei Tore geschossen hatte. Vieles vom Spiel war nur schwer zu verfolgen, eine riesige Schwenkfahne versperrte weitgehend die Sicht aufs Spielfeld. Wie auch im Spiel der Mannschaft wollte im Gästeblock die ganz leidenschaftliche Stimmung nicht aufkommen, auch wenn es erfreulicherweise ein neues Lied zu singen gab.
Viel passierte nicht im Offensivspiel, doch wenn es einmal in Richtung des Gladbacher Keepers ging, so fiel eines immer wieder auf: seit letzter Saison bewegt sich Vedad Ibisevic auf dem Feld wie ein Fremdkörper. Seine letzten Tore? Da muss man eine Weile in der Statistik suchen, und findet sich plötzlich in einem Spiel wieder, welches die bittere Geburtsstunde der späten Gegentreffer der Rückrunde darstellt: der Bosnier erzielte den einen Treffer, der uns gegen die Münchener bis in die Nachspielzeit hinein wie der sichere Sieger aussehen ließ.
Gut 30 Wochen ist das jetzt her. Eine rote Karte ließ ihn monatelang aussetzen, auch danach fand er nicht zurück in die Spur. Sein Vertrag wurde kürzlich verlängert, vielerorts fragt man sich natürlich: „Warum?“. Eine gute Frage. Ein Vedad Ibisevic in Top-Form ist unbezahlbar, ein Vedad Ibisevic in mäßiger Form bringt zumindest noch den einen oder anderen Punkt – doch was machst du mit einem Vedad Ibisevic, der nur noch ein Schatten seiner selbst ist und trotz allem stets gesetzt ist, allein aus der Hoffnung, dass der Knoten platzt?
Die Hoffnung der Hoffnungslosen
Es gab einen Freistoß vor der Heimkurve der Gladbacher, die stimmungstechnisch schon recht laut und eindrucksvoll unterwegs war. Daniel Didavi stand bereit und brachte die Flanke in den Strafraum hinein. Natürlich hofft man immer, dass um einen herum alle vor Freude in die Luft gehen, trotzdem war ich einigermaßen überrascht, als es dann doch passierte. Schnell wurde es wieder still, der Kopfballtreffer von Antonio Rüdiger zählte nicht.
Und plötzlich realisierte ich es. Wer war denn hier diejenige, die vor dem Spiel sagte, es gäbe nicht die geringste Chance, diese Partie für sich zu entscheiden, die alle optimistischen Tipps als naiv und blauäugig bezeichnete, die sich bewusst dazu entschieden hatte, nicht zu viel – oder vielmehr: gar nichts – zu erwarten. Hier stand ich nun, schlug die Hände über dem Kopf zusammen und stellte fest: ich hoffte und glaubte. So sehr.
Erst gegen Ende der ersten Hälfte wurde auch die Partie ansehnlicher, was man auch am dezent steigenden Beteiligungsgrad im Gästebereich spüren konnte. Sie trauten sich nun etwas mehr zu. Dabei wissen wir doch alle, wie es ist: lieber schlecht spielen und gewinnen, als in Schönheit sterben (bzw. verlieren). Hinterher fragt keiner mehr danach, ob das eine entscheidende Tor gekonnt hineingelupft oder stümperhaft hineingestochert wurde.
Besser als erwartet
Erst einmal Halbzeitpause. Dezentes Klatschen von allen Seiten für beide Mannschaften, es schrie geradezu nach „Ihr dürft gern noch eine Schippe drauflegen“. Wollen wir das mal hoffen. Der VfB würde nun in unsere Richtung spielen, sicherlich nicht schlecht, nachdem die Erkenntnis durchsickerte, auf der anderen Seite ohnehin nichts sehen zu können – die große Schwenkfahne war genau im Sichtfeld. Wohlwollendes Nicken zwischen mir und Sandro, wir hatten uns das beide wohl schon wesentlich schlimmer vorgestellt. So wirklich schlecht war die Partie bisher ja nun auch nicht.
Pünktlich ging es weiter, Zeit für den zweiten Durchgang. Ein wenig Anspannung mischte sich mit dem Gefühl, sich trotz allem auf das Schlimmste vorbereiten zu müssen. In 45 Minuten würden wir schließlich wissen, ob man ein kleines (oder großes) Erfolgserlebnis in die nächsten schweren Wochen mitnehmen kann, oder ob man nach dem frühen Pokal-Aus einen weiteren Dämpfer hinnehmen muss und damit dem letzten Optimismus beweisen dürften, dass diese Saison nicht die der großen Hoffnungen werden könnte.
Kaum rollte der Ball wieder, legte Gladbach eine Schippe drauf und zog ein wenig das Tempo an, was aber auch genau so zu erwarten war. Ein völlig misslungener Pass von Sven Ulreich konnte gerade noch von der Seitenlinie gekratzt werden, landete jedoch nicht beim eigentlichen Empfänger Gotoku Sakai, sondern direkt beim Gladbacher Havard Nordtveit., der nur noch den mitgelaufenen Branimir Hrgota bedienen musste. Alleine vor Sven Ulreich, und das grausame Gefühl, dass gleich alle Borussen aufspringen und Jubeln.
Schockzustand und Atemnot
Ich weiß bis heute nicht, wie diese Chance nur nicht drin sein konnte. Unsere derzeit recht wackelige Nummer Eins unterlief den Ball und darf sich beim Gladbacher Stürmer bedanken, dass er verstolperte und den Ball neben den Pfosten knallte. Tief durchatmen, Freunde. Das war verdammt knapp, davon hätte sich der VfB vielleicht in diesem Spiel nicht mehr erholt. Blankes Entsetzen im Gästeblock, für einen Moment war es mucksmäuschenstill. Manchmal weiß man genau, wenn man für die kleinen Momente dankbar sein sollte.
Ohne weitere Konsequenzen ging es weiter. Wenige Sekunden später war der VfB wieder am Drücker. Hinter mir hatte gerade einer noch die vergebene Chance der Gladbacher kommentiert, „Sowas rächt sich, pass auf, der VfB macht das Tor!“ und staunte nicht schlecht. Martin Harnik hatte die Flanke hinein gebracht, Christian Gentner mit einer tollen Ballannahme mit der Brust und dem Lupfer über zwei Gegenspieler, alles ging so schnell. Und da stand er auf einmal mutterseelenallein vor Yann Sommer. Alexandru Maxim. Junge, mach ihn…
Er ging in die Knie, breitete die Arme aus. Der Nachfolge des nach Barcelona abgewanderten Marc-André ter Stegen konnte nicht mehr tun, als seine Körperfläche so gut wie möglich zu verbreitern. Hop oder topp. Der Schuss ins Glück oder eine weitere vergeben Chance im möglicherweise vorentscheidenden Moment, wie einst in Frankfurt? Ein strammer Schuss, links am Bein des Keepers vorbei. Zentimeter. Stille. Atemlos.
Mitten ins Herz
Ja. Jaaa. JAAAAAAA! Jener Moment, in dem es nur dieses eine Wort gibt, geschrieen von tausenden Mitgereisten, laut, leidenschaftlich und euphorisch. Jaaaaaaa, die Führung! Feiern wollte er nicht, noch nicht, ein paar Meter weiter sollte es noch gehen, hinter dem Tor herum, hin zu den Fans, die außer sich waren. Weit breitete er seine kurzen Arme aus und klopfte sich mit der Hand auf seine schmächtige Brust, direkt auf das Traditionswappen, was in dieser Saison den Weg zurück aufs Trikot gefunden hatte. Schweig, mein dummes Herz!
Sekunden später sah man nichts mehr von dem blonden Rumänen, der sich schnell zu meinem persönlichen Favoriten aufgeschwungen hatte. Martin Harnik, Vedad Ibisevic, Daniel Didavi, Gotoku Sakai, Oriol Romeu, Florian Klein, Antonio Rüdiger, Daniel Schwaab, Christian Gentner… alle waren sie da und begruben den überglücklichen Torschützen zwischen sich, als hätte er das entscheidende Tor in der Meisterschaft geschossen.
Soooo wichtig. Nicht nur für das Spiel, sondern auch für die Fans, die viel zurückstecken mussten in der vergangenen Spielzeit. In diesem Augenblick ein unheimlich befreiender und Mut spendender Moment, ein Licht in all der Dunkelheit, die ich vor dieser Partie gesehen hatte. Doch wo Tore fallen, wächst für gewöhnlich auch eine gewisse Erwartungshaltung, dass man es doch mal – im Vergleich zu vergangenen Saison – über die Zeit bringen sollte.
Viel zu viele Unkonzentriertheiten
Wirklich geschockt wirkten die Hausherren allerdings nicht, fast glich Gotoku Sakai mit einer riskanten Grätsche per Eigentor aus, dann wiederum fehlte André Hahn nicht viel. Minütlich konnte man sehen, wie sich der VfB mehr und mehr zurück zog. Ob das im Falle der Führung das probate Mittel ist, wenn du ohnehin schon unter kritischer Beobachtung bei den eigenen Anhängern stehst?
Einige offene Fragen, die man sich stellen kann – und stellen muss. Die vielen Unkonzentriertheiten gehören abgestellt, sonst erwartet uns tatsächlich ein ähnlicher Alptraum wie in den letzten Monaten. Niemand von uns würde bereitwillig „hier“ schreien, wenn es um Wiederholungsbedarf geht. Die Erwartungen sind gemischt, einige legen alle Hoffnungen in den zurückgekehrten Meistertrainer, einige andere sehen das eher weniger optimistisch. Aus gutem Grund?
Was macht eigentlich Vedad Ibisevic? Der trabte währenddessen gemütlich vorne zwischen der Gladbacher Abwehr, gestikulierte und lamentierte, wo er nur konnte. Viele Sympathien hat er bereits verspielt, als seine Unbeherrschtheit uns mehrere Monate ohne (damals noch) zuverlässigen Stürmer haben dastehen lassen, und später, als er außer meckern und foulen nichts anderes Nennenswertes mehr zu Stande bringen konnte. Wirklich schade, mit anzusehen, was aus dem Knipser aktuell geworden ist.
„Abseits, das war abseits!“
Die Partie drohte langsam zu kippen, immer mehr Chancen für die Gastgeber waren nicht gerade das, was man sehen wollte, nachdem der VfB sich schon aufraffen konnte, die Führung zu erzielen. Ein weiterer Ballverlust landete bei unserem ehemaligen Flügelflitzer, der die Schuhe seit dieser Saison nun für die Borussia schnürt. Wir wissen, wie schnell er sein kann, wenn er will. Und wir wissen auch, wie gefährlich seine Flanken werden können.
Eine davon erreichte den Unglücksraben kurz vor Alex Maxims Führungstreffer, Branimir Hrgota. Nun jubelten sie, die Gladbacher, ein strammer Schuss direkt ins Netz, unhaltbar aus kurzer Distanz, da konnte Ulle nicht mehr viel machen. Nur langsam löst sich die Schockstarre mit den Worten „Abseits, das war abseits!“ Wie schon das Tor von Antonio Rüdiger wurde der Treffer nicht gegeben, wie schon im ersten Durchgang zurecht.
Die Minuten vergingen, die Uhr tickte – und immer wieder tauchte die Borussia vor Ulle auf und nutzte die besten Chancen nicht, zu unserem Gunsten, doch wie lange wäre das noch gut gegangen? Mal war es mit letzter Kraft der Schuh des Innenverteidigers, mal die Hand des Keepers und mal war es der Pfosten. Nicht nur der VfB hat ein Problem mit der Chancenverwertung, auch die Gladbacher stehen uns in diesem Fall in nichts nach.
Der bange Blick zur Uhr
Beunruhigt blickte ich zur Uhr. Noch gut 16 Minuten, ob das am Ende reicht? Die berühmt-berüchtigte Schlussviertelstunde hatte begonnen, der Zeitpunkt, wo jedem VfB-Fan stets das Herz in die Hose gerutscht ist und jeder Atheist zum Fußballgott gebeten hatte, er möchte uns bitte vor den Gegentoren bewahren. Geklappt hat das natürlich nicht immer, und doch glauben wir weiterhin daran, dass diesem Sport manchmal ein ganz eigener Zauber innewohnt.
Nicht nur Lucien Favre an der Seitenlinie wurde immer nervöser, desto näher der Abpfiff kam. Bloß nicht wieder der selbe Alptraum wie zuletzt, sei es auch höchst unerwartet, hier muss man doch was mitnehmen?! Auch die knapp 2.000 Unentwegten waren geteilter Meinung, wann man wirklich „Aus-Aus-Auswärtssieg“ zelebrieren darf. Am Besten erst dann, wenn der Schiedsrichter abgepfiffen hat, oder? Alles weitere ist zu gefährlich, wir kennen ja unsere Pappenheimer.
Zehn Minuten noch, 17:6 Torschüsse, aber 0:1 auf der Anzeigetafel. Nervöse Anspannung, ein letzter Endspurt in Sachen Support, noch einmal alles geben und die Mannschaft pushen, dir hier geradezu um den Ausgleich gebettelt hatte. Nur noch einmal kamen sie wirklich nah an das 2:0, nur noch die Hände von Yann Sommer verhinderten die ausgelassene Freude über den Auswärtssieg. So richtig freuen konnte ich mich folglich nicht, zu sehr die dunklen und schweren Gedanken an all die Tore, die nach der 85. Minute noch gefallen waren.
Und täglich grüßt das Murmeltier
Nur noch wenige Augenblicke trennten uns vor dem unerwarteten Auftaktsieg im Borussia-Park. Das hatte man so nicht wirklich kommen sehen, so ehrlich musste man dann schon sein. Der VfB schleppte sich pomadig mit letzter Kraft über den Platz und setzte genau das fort, was seit Monaten das unter zwei anderen Trainern das große Problem war: mangelnde Fitness und Konzentration in den letzten Momenten der Partie. Hätte Christian Gentner den Sack zugemacht, wäre das alles schon nicht der Rede wert gewesen.
Gladbach war weiterhin redlich um den späten Ausgleich bemüht. In der Hälfte der Borussia vermochte es keiner unserer Brustringträger, wirklich noch einmal dazwischen zu hauen und den Ball einfach wegzuschlagen. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. Eine solche Art von Spielen kenne ich doch…? Nicht einmal zu Ende fassen konnte ich den Gedanken, da sah ich das Unglück schon kommen. Jubel. Und diesmal war es kein Abseits.
Weltmeister Christoph Kramer hatte aus der zweiten Reihe noch einmal beherzt Maß genommen und in die linke untere Ecke den Ausgleich markiert. Wie sollte es auch anders sein, es war die 89. Minute. Das Magazin für Fußballkultur, 11Freunde, druckte in der Sommerpausenausgabe noch die Wette ab, der VfB würde auch in der neuen Spielzeit mindestens acht Gegentreffer nach der 85. Minute kassieren. Das wäre dann schonmal Nummer eins.
Blankes Entsetzen
Was soll man dazu sagen? Es gibt keine Worte für so viel Dummheit und Versagen. Wer so behäbig zu Werke geht, der führt und doch weiß, wie gefährlich die letzten Minuten sein können, gemessen an dem, was man mitgemacht hat – man möchte meinen, sie sollten es eigentlich besser wissen. Doch sie taten es nicht. Sie ließen uns also still dastehen, die Hände über den Köpfen zusammengeschlagen mit einem großen „Warum?“.
Sämtliche Erinnerungen kamen hoch. Bayern, Wolfsburg, Gladbach, Dortmund, Bremen, Braunschweig, Frankfurt, Berlin, Leverkusen, Mainz und nochmal Bayern – in jedem dieser Spiele der Rückrunde kosteten uns die letzten zehn Minuten die Punkte, drei Mal kassierte man den Ausgleich, acht Mal verlor man kurz vor der Ziellinie. Nie wieder sollte es passieren. Der Blick auf die Anzeigetafel zeigte uns, dass es wieder passieren würde.
Drei Minuten Nachspielzeit lagen noch vor uns. Gibt es hier sogar noch den Siegtreffer der Gladbacher? Durchaus möglich, die Borussia hatte nun Rückenwind, nicht zuletzt durch die Fans, die sie nach vorne schrien. Da hatten wir nicht mehr viel zu melden. Apathisch starrte ich aufs Spielzeit, nicht in der Lage, auch nur irgendwas zu sagen. Es geht genau so weiter, wie es aufgehört hat.
Weder Fisch noch Fleisch
Ein weiteres Tor blieb uns erspart. Mit dem einen Punkt mussten wir zufrieden sein – doch waren wir es wirklich? Wer bis kurz vor Schluss führt, muss das Ding nach Hause bringen, heißt es ja eigentlich. Gemessen an dem, was ich zuvor vermutet hatte, sollte ich lieber dankbar sein, dass es sogar ein Punkt geworden ist. Die Enttäuschung konnte man dennoch wohl kaum hinter dem Berg halten, trennten uns doch nur wenige Momente vom Auswärtssieg, und das auch noch auswärts beim Europa-League-Teilnehmer aus dem Nordwesten der Republik.
So richtig freuen konnte man sich nicht, so richtig sauer sein allerdings auch nicht. So ging es wohl den Meisten, ob mit weiß-rotem oder grün-weiß-schwarzem Trikot. „Besser als nichts“, und so mussten wir ein weiteres Mal die Mannschaft vor dem Gästeblock verabschieden. Anders als eine Woche zuvor mit einem sanften Lächeln, das ihnen sagen sollte: „Arbeitet weiter, dann wird das schon, für heute wars okay“.
Erneut trennten sich die Wege, die Mannschaft stieg in ihren Bus, wie auch viele andere der angereisten Fans, wir machten uns ganz langsam auf dem Weg nach draußen. So schnell würden wir von dem Parkplatz ohnehin nicht runterkommen, so verweilten wir noch lange auf P4 vor den Toren des Stadions. Frisch gestärkt machte ich mich an die Arbeit, es galt viele Bilder zu sichten und aufzubereiten. Die Rückfahrt zog sich lang, fertig geworden war ich dennoch nicht. Mit letzter Kraft schleppte ich mich gegen zwei Uhr nachts ins Bett. „Bilder mach ich morgen fertig, das muss reichen“. Wie der eine Punkt. Jedenfalls fürs erste.
33 Jahre, gebürtig aus Leipzig, seit 2010 wohnhaft in Stuttgart – Bad Cannstatt. Dauerkartenbesitzerin, Mitglied, ehemalige (Fast-)Allesfahrerin und Fotografin für vfb-bilder.de. Aus Liebe zum VfB Stuttgart berichte ich hier von meinen Erlebnissen – im Stadion und Abseits davon.
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