“Ade!” sagte der Eisverkäufer zu mir, als ich mit meiner Kugel Erdbeereis in der Waffel den anderen schnellen Schrittes hinterher lief, die bereits ein paar Meter vor mir in Richtung Straßenbahnhaltestelle unterwegs waren. Ein offenbar aus Stuttgart kommender Italiener fragte uns, ob wir aus Schorndorf seien. “Noi, Schduegerd!”. Grinsend ließ ich das Niedersachsenstadion hinter mir, mit gemischten Gefühlen. Ein Sieg hätte drin sein können, wenn nicht sogar müssen.
Mit Müh und Not quetschen wir uns noch in die Straßenbahn, zwischen Hannoveranern und Stuttgartern ging es zurück zum Parkplatz. Ich war mir nicht so ganz sicher, was ich von diesem Spiel halten sollte. Zumindest nicht verloren, möchte man meinen, zumindest ein Punkt. Doch ist es nicht gerade zufriedenstellend, wenn nicht einmal ein Tor geschossen wurde. Die Chancenverwertung hier, die Harmlosigkeit dort. Die Geschichte eines Spiels, was für neutrale Zuschauer an Mäßigkeit nur schwer zu unterbieten sein musste.
Der kalendarische Frühling hatte schon längst begonnen, doch das Vertrauen auf die angekündigten warmen Temperaturen wurde in den letzten Wochen ein ums andere Mal enttäuscht. Grauer Himmel, diesiges Wetter, Regel, Wind, Kälte \” alles, nur kein Frühling. Der Griff zur Strumpfhose \” hoffentlich ein letztes Mal in dieser Saison \” war Bestandteil unserer Vorbereitungen. Mit Umweg über die Rattenfängerstadt Hameln hieß unser Ziel heute: Hannover.
Der Blick zurück \” der Blick nach vorn
Samstag Morgen um 6 Uhr in Weinstadt-Beutelsbach. Die Häuser und Wohnungen waren dunkel, die Rollläden unten, die meisten schlummerten noch friedlich, als sich 5 Leute freudig begrüßten und mit einem lauten Knall die Tür des Transporters hinter sich zuschlugen. Es konnte losgehen, die Vorfreude auf einen hoffentlich schönen, warmen und vor allem am Ende erfolgreichen Tag war groß. Das war sie oft in letzter Zeit, der aktuelle Tabellenplatz des VfB lässt einen als leidenschaftlichen Fan aber natürlich nicht kalt.
Als Tabellendreizehnter mussten wir zum Tabellenzehnten, die Hannoveraner hatten aber durch das nahe Beieinanderliegen der Punktzahlen sogar noch Chancen auf die Europa League. Die würden es uns sicher nicht einfach machen, sollte man zumindest im Vorfeld gemeint haben. Denke ich an Hannover, denke ich über 4 Jahre zurück, als am Valentinstag 2009 nach einer Achterbahnfahrt der Gefühle am Ende ein 3:3 zu Buche stand. Damals hieß das Duell Tabellendreizehnter gegen den Tabellensechsten. So kanns manchmal gehen.
In meinem Kopf geisterten schlimme Gedanken. Was tun, wenn wir hier wieder scheitern? Die Konkurrenz, die uns im Nacken sitzt, schläft nicht. Schnell noch möglichst viele Punkte sammeln, um mit dem Abstieg nichts mehr zu tun zu haben, dann noch das wichtigste Spiel der Saison gegen Freiburg überstehen, und schon kann eine Saison, die schon abgeschrieben war, gerade noch gerettet werden. Weitere Niederlagen war sicherlich das letzte, was es wenige Tage vor diesem wichtigen Spiel braucht.
Über Hameln nach Hannover
Bis es soweit war, dauerte es ein paar Stunden. Einige Zeit hatte ich im Auto geschlafen, das Navi sponn und schickte uns falsch herunter, wir fuhren mit dem Atlas weiter. Doch auch das war nicht die schnelle Art, zunächst erst einmal nach Hameln zu kommen, wo wir unser Touri-Programm verleben wollten. Zu früh rausgefahren, über die Landstraße weiter zur Rattenfängerstadt, die uns bei traumhaften Wetter empfing. Ein kurzer Stadtbummel, ein leckeres Mittagessen, schon ging es weiter in die Hauptstadt Niedersachsens.
An der Endstelle der Straßenbahn parkten wir, zogen uns um und fuhren zum Niedersachsenstadion, das anders als viele meiner besuchten Stadien in den letzten 6 Jahren immernoch genau so heißt, wie das erste Mal, als ich hier Ende 2007 meinen Fuß hinein setzte. Die Stadiontore waren noch verschlossen, wir waren früh dran. Bald begegnete ich den ersten bekannten Gesichtern, auch der Glücksbringer von Hamburg und Frankfurt war wieder mit dabei.
Geduldiges Warten im Gästeblock, der sich nur langsam füllte. Es sollte eine Choreographie mit Blockfahne geben, ich war schon sehr gespannt und wartete minütlich nervöser werdend, während vor meinem inneren Auge immer wieder die dramatischen Bilder von 2009 aufflammten, als wir schnell 2:0 führten und Thomas Hitzlsperger uns in der 89. Minute noch vor der Niederlage rettete. Damals brachten wir uns durch Unachtsamkeit selbst um den Sieg. Die Hoffnung, dass es heute anders sein würde, sie war lebendig. Trotz allem Frust in dieser durchwachsenen Saison.
Im Rücken der Choreo
Mittlerweile ist dieses Spiel eine Woche her, trotz eines Urlaubstags am Montag habe ich es nicht fertig gebracht, diesen Bericht zeitnah nach dem Spiel zu schreiben. Viel Geschäft, viele Überstunden, so viele Dinge die noch zu tun sind, es bricht mir das Herz, das mein Blog darunter leidet. Ich würde gern schneller schreiben, doch bekomme ich es momentan einfach nicht hin. Am morgigen Tage empfängt unser VfB die Europa League Aspiranten aus Mönchengladbach, ein schwieriges Spiel.
Und nun sitze ich hier \” mit Nackenstarre. Blöd gelegen, seit 4 Uhr nachts kann ich meinen Kopf kaum bewegen. Ob das bis morgen wieder weg ist? Ich hoffe es, würde es sich ohne Nackenstarre doch so viel befreiter feiern als im Würgegriff des Schmerzes. Es gab Zeiten, da hatte ich keinen Zweifel, dass Gladbach ein sicherer Sieg wäre. Wie auch Hannover. Beide machbar. So vieles in dieser Saison wäre machbar gewesen, der Blick in den Abgrund für uns so oft erschreckende Realität.
Meine Gedanken schweifen zurück nach Hannover. Der Gästeblock wurde voller, es konnte losgehen. Um zumindest einen Teil der Choreographie von oben fotografieren zu können, verließ ich den erwählten Platz neben meinem Glücksbringer, dessen Name ich nicht kenne, und stellte mich ganz nach oben. Zum Anpfiff rollte sich das riesen Transparent aus, eine gelungene Choreo. Ich bin stolz, Teil dieser lebendigen Fanszene zu sein, die jedes Mal mit so viel Herzblut solche Aktionen vorbereitet.
Spannung? Fehlanzeige…
Wie gerne würde ich in den nachfolgenden Zeilen über ein spannendes und aufregendes Spiel berichten. Das Spiel hatte begonnen und unter dem Dach des Stadions sangen die Fans des VfB Stuttgart, von Leidenschaft, von Siegen, von den guten Zeiten des Lebens. Damit waren wir allein schonmal euphorischer eingestimmt als die Spieler auf dem Feld, die unter ungewohntem Sonnenschein vor 46.000 Zuschauern gegen den Ball traten.
Mein letzter Spielbericht vom Heimspiel gegen Borussia Dortmund artete aus, 32.828 Zeichen aus 10 DIN A4-Seiten. Ich bin froh, dass mich der schmerzende und unbewegliche Nacken nicht bei jenem Spiel heimgesucht hatte. Ernüchternde Erkenntnis nach dem Auswärtsspiel in Niedersachen: es war das komplette Gegenteil. Mit 2 Wärmepflastern, Halstuch, Strickjacke und Kirschkernkissen ausgestattet bin ich an diesem Samstag Abend aber auch irgendwie froh darum.
Es waren die 96er, die die erste Gelegenheit des Spiels hatten, Mame Diouf lässt solche Gelegenheiten nicht oft liegen. Die Kugel rutschte ihm durch, Glück für uns, für die Mannschaft mit den schwarzen Kniestrümpfen und uns 1.050 mitgereiste Fans. Selbst für Sonntag Nachmittag eine geringe Anzahl an Auswärtsfahrern, bei gleicher Uhrzeit waren es in Hamburg fast 600 mehr. Die durchwachsene, um nicht zu sagen, regelrecht schlechte Saison hat auch vor den Auswärts-Zuschauerzahlen nicht Halt gemacht.
Trostloser Kick in Halbzwei Eins
Shinji Okazaki hat schon einmal ein tolles Tor in Hannover geschossen. Reichte es damals nur zum 4:2-Anschlusstreffer an einem ganz schwarzen Tag des VfB in der vergangenen Saison, wurde es zumindest zum Tor des Monats Februar 2012 gekürt. Wenige Minuten nach Hannovers erster kleiner Chance, hätte der Japaner zum 0:1 treffen können \” wenn Johan Djourou sich nicht dazwischen geschmissen hätte. Eines der wenigen Highlights einer langweiligen ersten Halbzeit.
Während von den 96-Fans nur recht selten etwas zu hören war, wollte die ganz große Stimmung aber auch im Gästebereich nicht aufkommen. So dümpelte es vor sich hin. Große Torchancen gab es nicht, zwischen beiden Strafräumen spielte sich das Geschehen ab, ohne den ganz großen Zug zum Tor, mit stabiler Abwehrarbeit auf beiden Seiten. Auf gut deutsch: Laaaaaaaaaaangweiliiiiiiig!
Ich gebe es ungern zu, aber dieses Spiel war, wenn nicht gerade ein Spieler in Richtung eines Tores gerannt war, weitgehend unaufregend. Offenbar waren Kampf und Einsatz schon eine Woche zuvor restlos verbraucht worden. So ging es torlos nach einer eher trostlosen ersten Hälfte in die Pause. Kein Applaus, keine Pfiffe, betretenes Schweigen. Warten. Warten auf eine spannende zweite Halbzeit, warten auf den Sieg, warten auf die Punkte, die wir so dringend für den sicheren Klassenerhalt brauchen.
Torschüsse mit Seltenheitswert
Die zweite Halbzeit hatte gerade begonnen, ich wechselte von ganz oben im Block nach weiter unten, um alternative Fotomotive zu erlangen. Wenige Minuten später, schon stand wieder der Japaner im Mittelpunkt des Geschehens, der frei vor Ron-Robert Zieler den Ball bekam. Helle Aufregung im Gästeblock, den Jubelschrei auf den Lippen, wie sehr ich mich danach sehnte, jetzt laut heraus schreien zu können. Ein, zwei Meter weiterlaufen, schießen, treffen, jubeln \” es hätte so einfach sein können.
Stattdessen ein überhasteter Abschluss direkt in die Arme des Keepers. Raunen im Gästeblock, die Chancenverwertung über die ganze Saison hinweg ist noch schlechter als dieses Spiel. Auch Hannover schoss kurz darauf auf den Kasten von Sven Ulreich, jeder Versuch, aufs Tor zu schießen, wurde von den jeweiligen Anhängern beider Vereine beklatscht, Gelegenheiten waren ja schließlich für beide Mannschaften Mangelware. Sergio Pintos Versuch landete am Außennetz, es stand weiterhin 0:0.
Die Stimmung im Gästeblock hatte es schwer, mitreißend zu sein, wenn der Funke von der Mannschaft nicht so recht überspringen mag. Man tat sich schwer, aber es wurde besser mit jeder Minute. Die Beteiligungsquote stieg, Wechselgesänge zwischen den Blöcken im Gästebereich, man unterhielt sich selbst, wenn es die Mannschaft schon nicht konnte.
Schlussspurt ohne Offensive
Seit 72 Tagen trägt er das Trikot mit dem Brustring. Wie einst Vedad Ibisevic brauchte auch Alexandru Maxim nicht lang, um uns Fans davon zu überzeugen, wie wichtig er eines Tages sein wird. Sein Tor gegen Dortmund, seine Vorlage in Frankfurt, für uns gehört der Rumäne in die Startelf. Noch 12 Minuten waren zu spielen, als ein Freistoß vor dem Tor der 96er die Chance auf einen späten Treffer erhöhte.
Begleitet von “Auf gehts Stuttgart, schieß ein Tor!” formierte sich die Mauer der Hannoveraner, über denen der Schuss der Nummer 44 einfach drüberrauschte. Knapp über dem Tor senkte sich der Ball und verfehlte sein Ziel nur um wenige Zentimeter. Das hätte der Sieg sein können. Mit dem 1,78 m großen Mittelfeldspieler ist nun endlich die Torgefahr bei Standards in die Reihen der Stuttgarter zurückgekehrt.
Die mitgereisten Fans spürten, das hier doch mehr drin sein muss als ein mageres 0:0. Es wurde minütlich lauter, man heizte der Mannschaft und sich selber ein, laut, leidenschaftlich, inbrünstig. Am Ende sollte auch dieser Schlussspurt der Fans nichts mehr nützen, der Rumäne probierte es kurz vor Abpfiff noch einmal aus spitzem Winkel, der Keeper der Niedersachsen war jedoch aufmerksam und so endete die Partie mit 0:0.
1.200 km, 0 Tore, 1 Punkt
Was bleibt, ist das unabschüttelbare Gefühl, dass da hätte noch mehr drin sein müssen. Keiner wollte so recht zufrieden sein, obwohl man sich den Punkt geteilt hatte.Wohlwollend klatschten wir ihnen zu, als sie in die Kurve kamen. Natürlich hätte man sich den Sieg gewünscht und aufgrund größerer Spielanteile auch verdient gehabt. Wenn du nur kein Tor schießt, kannst du auch nicht gewinnen, die wichtigste Grundregel unseres Lieblingssports.
Zurück blieben leicht betretene Gesichter, der Block leerte sich schnell, die Busse für die meisten der angereisten Gästefans standen zur Abfahrt bereit. Wie fast üblich verließen wir erst als Letzte den Gästebereich, das Ordnugspersonal zeigte weit weniger “Rausschmeiß-Potenzial” als der heimische Ordnungsdienst in Stuttgart, der bereits 10 Minuten nach Abpfiff die Leute aus den Blöcken vertreiben will.
Noch ein Eis für unterwegs, in die Straßenbahn und zurück zum Auto. Mit einem Punkt im Gepäck ging es wieder zurück nach Hause, der Laptop wärmte meinen Schoß, bevor ich müde einschlief. Nachts um 3 erreichten wir Weinstadt, das “Gepäck” wurde verladen, man verabschiedete sich und so fuhren Felix und ich zurück nach Bad Cannstatt. Nur noch 6 Spiele bis zum Saisonende. Gladbach vor der Brust, Berlin im Kopf. Kämpfen und siegen, niemals aufgeben!
33 Jahre, gebürtig aus Leipzig, seit 2010 wohnhaft in Stuttgart – Bad Cannstatt. Dauerkartenbesitzerin, Mitglied, ehemalige (Fast-)Allesfahrerin und Fotografin für vfb-bilder.de. Aus Liebe zum VfB Stuttgart berichte ich hier von meinen Erlebnissen – im Stadion und Abseits davon.
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