Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Sonntag Nacht saß die Enttäuschung so derart tief, das es weh tat. Man hatte sich so lange auf diesen Moment gefreut, man hatte eine Hand schon am Pokal (oder vielmehr unsere Jungs hatten sie dran) – und dann scheitert man kurz vorm Ziel. Ich wusste nicht was ich tun sollte. Dabei hatte ich meine Entscheidung schon längst getroffen.
Berlin, 30.06.2008, geplante Meisterfeier am Brandenburger Tor mit den Fans auf der Fanmeile. Mit dem Titel wurde es nichts – aber gefeiert wurde trotzdem. Ich war live dabei, nahm mir am Montag extra frei und arbeitete dafür am Samstag, alles kein Problem.
Etwas geknickt ging es in aller Herrgottsfrühe in die Stadt, wo die bereits organisierte Mitfahrgelegenheit erschien und mich zusammen mit 3 weiteren Mitfahrern nach Berlin zum Alexanderplatz brachte. Kurz nach 10 Uhr frühs war ich vor Ort, hatte sogar noch Zeit, auf den Fernsehturm zu fahren. Fast 6 Jahre und 6 Besuche in unserer Hauptstadt Berlin hat es gedauert, bis ich es endlich auf die Reihe bekommen habe, letztes Mal scheiterte ich ja nur knapp in Begleitung meines Kumpels Alex, der mich neulich zum Halbfinale gegen die Türkei begleitete.
Bevor ich einen Ausblick genießen konnte, der wirklich gigantisch war, musste ich richtig tief in die Tasche greifen: 9,50 Euro für den Eintritt zur Aussichtsplattform ist ein Wucher, wie ich finde. Doch jetzt auf der Stelle kehrt machen? Nicht doch, ich legte grummelnd die 10 Euro auf die Theke und fuhr in einem heißen und stickigen Aufzuf nach oben. Der erste Blick ging sofort zur Fanmeile am Brandenburger Tor, die noch gähnend leer aussah, jedenfalls vom Fernsehturm.
Ewig Zeit blieb nicht, auf gehts zur Fanmeile. Halb 11 brach ich auf und fuhr mit der S-Bahn zur Station Tiergarten. Wenn ich gewusst hätte, das dies total unpraktisch war, hätte ich mich von Anfang an durchgefragt als auf meinen ohnehin nicht vorhandenen Orientierungssinn zu hören. Dort ausgestiegen lief ich fälschlicherweise erst einmal in die falsche Richtung, bis sich ein netter junger Mann zum Stehenbleiben überreden ließ und mir zeigte, wo ich lang muss. Also gut, die Strecke nochmal zurück.
Vor mir die Siegessäule, zumindest scheine ich nun in die richtige Richtung zu laufen. Unter der brütend heißen Berliner Mittagssonne schlurfte ich Meter für Meter über den grauen Asphalt, den dichter werdenden Menschenmassen hinterher, bis ich das Brandenburger Tor sah. Endlich hatte ich es geschafft. Nach Abgabe meiner frisch geleerten Trinkflasche suchte ich erstmal mein potentielles Mittagessen, eine Bockwurst tuts auch. Dabei fiel mir ein junger Mann auf, der ein Poster unterm Arm kemmte, wie so viele, die des Weges kam. Mein “Wo hastn das Poster her?” beantwortete er leicht ahnungslos mit einem “Irgendwo da vorne”, überließ mir aber ohne dass ich gefragt hatte sein Poster und begnügte sich mit meinem schönsten Lächeln. Es gibt eben doch noch nette Menschen, vielen herzlichen Dank an den netten Unbekannten.
Der Weg, den ich in Richtung Bühne zurücklegte ließ schnell eine bittere Erkenntnis durchsickern: So viele Leute! Es waren schon solche Menschenmassen versammelt, dass ich einen guten Platz in Sichtnähe der Bühne ohnehin jetzt schon abhaken konnte – wäre ich nur um 7 Uhr schon hier gewesen.
Nun war es gerade mal kurz vor 12, die Erschöpfung unter der prallen Hitze machte sich jetzt schon bemerkbar, bei mir selbst und auch bei den Leuten, an denen ich mich Stück für Stück innerhalb von 2 Stunden vorbeidrängelte. Ich entschuldige mich bei allen, die sich darüber aufregten, ich mag so etwas ja selber nicht, aber in dem Moment war mir das wichtigste, überhaupt dann etwas zu sehen. Und bei nicht einmal 1,60m Körpergröße hätte ich noch einen weiten Weg nach vorne zurücklegen müssen. Da irgendwann wirklich gar nichts mehr ging beließ ich es bei einer Position, die meine Ballerina-Qualitäten schulen sollte: nur auf Zehenspitzen war etwas zu sehen, was halbwegs wie eine Bühne aussah.
Das Warten auf die Jungs wurde zur Strapaze, wurde aber erträglich gemacht durch zahlreiche musikalische Auftritte und bemühte Moderation. Die Enttäuschung des Vortags wog dennoch schwer, nicht nur bei mir – mit der Stimmung vor dem Halbfinale sowie des Finales war dies hier nun kaum noch zu vergleichen. Vor 2 Jahren traf man sich bereits hier am Brandenburger Tor, man gewann allerdings mit durchgängig attraktivem Fußball das Spiel um Platz 3 gegen Portugal, und die Herzen der Fans sowieso.
Plötzlich gingen alle Köpfe nach oben, was mochte da sein außer der Sonne, die erbarmungslos auf meinen Schädel knallte? Eine Lufthansa-Maschine drehte ihre Runde über dem Brandenburger Tor, jeder wusste, was das zu bedeuten hatte. Freudig winkte man gen Himmel, in der Hoffnung, die Jungs würden es oben aus dem Flugzeug heraus sehen können. Das war sie definitiv, unsere Nationalmannschaft.
Nach weiteren quälend langen Minuten, gar gefühlten Stunden, übertrug die riesige Leinwand die ersten Videoaufnahmen aus dem Helikopter, der über den beiden Mannschaftssbussen schwebte (einer für die Jungs, der andere für die Spielerfrauen). Kollektiver Jubel machte sich breit, die Vorfreude stieg. Die Temperaturen gefühltermaßen auch.
Nahezu minütlich schaute ich auf die Uhr: die Jungs waren für 14:30 Uhr angekündigt, lange sollte es nicht mehr dauern. Fast pünktlich war es dann soweit: die Menge tobte, während der Moderator Spieler für Spieler auf die Bühne rief. Inbrünstig wurde gejubelt, geschrien, gelobpreist, trotz der Finalniederlage ist und bleibt die Nationalmannschaft des Deutschen liebstes Kind.
Begeistert hielt ich die Kamera in die Lüfte, in der Hoffnung, wenigstens ein gutes Foto von meinen Jungs zu machen – es erwies sich als nahzu kompletter Misserfolg, ich habe etliche Fotos von der Bühnenbeleuchtung und von den Leuten, die vor mir standen – nur wenige Male gelang es mir, die Jungs ordentlich aufs Bild zu bekommen. Auch Videos wurden gemacht, die Sonne zeigte sich von ihrer schönsten, oder eher schmerzhaftesten Seite und brannte mir Stück für Stück die Haut auf meinem Oberarm weg. Klingt schmerzhaft? War es auch! Als unser Kapitän Michael Ballack die Bühne betrat und von Monika Lierhaus gefragt wurde, ob es den weh täte, eine Wunde am Auge zu haben oder ob man wegen des Adrenalins nichts spürte. Er meinte, man spüre es zuerst nicht, so spürte ich auch den Sonnenbrand (noch) nicht, der sich fleißig mehr und mehr einbrannte.
Das Lächeln in den Gesichtern unserer Jungs war zurückgekehrt, zumindest erweckte es den Anschein. Kurz nach einer solchen Enttäuschung ist es natürlich schwer, sich von hunderttausend Fans feiern zu lassen, als hätte man das große Ziel erreicht – die Jungs taten ihr bestes und erfüllten das Motto des Tages voll und ganz: “Danke Fans”.
Die Feier am Brandenburger Tor fiel spürbar kürzer aus als noch vor 2 Jahren, aber übel nehmen kann es ihnen wohl kaum jemand. Unter dem tosenden Jubelgeschrei der Fans, die seit Stunden mit mir gemeinsam an der Bühne auf der Fanmeile in Berlin ausharrten, unter dem kurzerhand umgedichteten Song der Revolderhelden verabschiedete sich die Nationalmannschaft von den Fans und startet nun in den wohlverdienten Urlaub: “Dieses Jaaaaahr, geht das Fußballwunder weiter, wir sind daaaaaa, und wir sind Vize-Europameister”.
Lief die EM so, wie man sie sich selbst vorgestellt hat? Nein, nur selten. Ist man stolz auf die Mannschaft und den Erfolg der Vize-Europameisterschaft? Natürlich! Man hätte so gern an diesem Montag Mittag den Pott in den Händen von Michael Ballack gesehen, sein strahlendes Lachen, doch es hat eben nicht sollen sein.
Was bleibt, ist ein toller Tag in Berlin, der noch lange nicht vorbei war, viele Fotos und Videos und die Möglichkeit, den Jungs “Danke” gesagt zu haben. Auch wenn man sie während des Turniers manchmal am liebsten übers Knie gelegt hätte, das alles war nun vergeben, wenn auch nicht vergessen.
Zum Abschluss flogen noch ein paar gelbe Postbank-Fußbälle in die Menge – mit dem Poster in der einen, der Kamera in der anderen Hand gestaltete sich ein mögliches Fangen schon von vornherein als schwierig, dennoch schubste und rempelte ich nach Herzenslust – leider ging ich leer aus. Allerdings hatte ich schon vor der Ankunft der Jungs einen blauen Ball ergattert, der mir förmlich von selbst sprichwörtlich in die Hände fiel.
Als sich die Reihen lichteten wollte ich nur noch eines: schnell raus hier und etwas trinken, koste es was es wolle. Nicht jedem bekam der 4-stündige Aufenthalt in brütender Hitze gut, mit wenig bis garkeiner Flüssigkeit. ich war glücklicherweise eine davon, ein junges Mädchen erwischte es stattdessen. Schaulustige richteten ihre neugierigen Blicke auf den Boden, wo das Mädchen lag und im Schatten bereits von einigen Helfern versorgt wurde.
Koste es was es wolle: der erste Getränkestand erleichterte mich um 3 Euro, eine Cola hat selten so gut geschmeckt. Eine kurze Auszeit auf dem steinigen Kieselboden und eine dreiviertel Flasche Zuckerwasser später waren wieder einige Kraftreserven zurückgekehrt und ich lief wieder zur Bühne, um mich von jemanden davor samt ausgerolltem DANKE-Poster fotografieren zu lassen, eine Dame in den 40ern war so freundlich.
Immernoch breit vor mich hingrinsend stand ich nun da am Brandenburger Tor, verbrannt vom Unterarm bis zur Kopfhaut, dennoch grinsend. Es ist nur ein paar Tage her, dennoch erinnere ich mich nicht mehr genau daran, wie mich der nette Mann neben mir eigentlich angesprochen hat. Wie dem auch sei, wir kamen ins Gespräch: 2 Leute, die allein in Berlin nur für die Elf unterwegs war, er ein HSV-Fan aus der Nähe von Paderborn, ich ein VfB-Fan aus Leipzig. Wir tranken noch etwas zusammen, unterhielten uns und lachten uns viel, Eddy ist schon ein Netter. Später gesellte sich noch ein Bayern-Fan aus Straubig sowie 2 Werder- bzw. Rostock-Fans aus Berlin. Man verstand sich prächtig, so konnte ich noch die Stunden bis zur Heimfahrt halb 9 gut herumkriegen.
Nach einem Abendessen mit Eddy im Kartoffelkeller in Berlin musste ich mich verabschieden und trat, knallrot wie ich nun aussah, die Heimreise an. Die Erschöpfung zog schwer an meinen Kräften, ich freute mich unendlich auf meine Dusche und mein Bett. Aber das sollte sich noch eine Stunde verzögern, denn wir standen noch auf dem Heimweg im Stau. Nach über einer Stunde gab sich der Grund für die Verkehrstörung endlich zu erkennen: Ein Lastwagen hatte einen Totalschaden, überall Feuerwehr und Ölspurbeseitigungsfahrzeuge, ein beängstigender Anblick. Dieser Grusel-Moment befindet sich aber in bester Gesellschaft mit 10 Minuten in der Schrottpresse: Vor, neben und hinter uns riesen Brummis, da wird einem alles andere als warm ums Herz.
Endlich zu Hause… die ersehnte Dusche und dann gleich ab ins Bett. Viel Zeit blieb nicht, am nächsten Morgen wieder früh raus und tagsüber 2 Kundentermine – und das mit einem üblen Sonnenbrand, der jenseits von Gut und Böse ist.
Auch wenn sie das nie lesen werden: Danke, Jungs. Ich bin trotzdem so stolz auf euch.
33 Jahre, gebürtig aus Leipzig, seit 2010 wohnhaft in Stuttgart – Bad Cannstatt. Dauerkartenbesitzerin, Mitglied, ehemalige (Fast-)Allesfahrerin und Fotografin für vfb-bilder.de. Aus Liebe zum VfB Stuttgart berichte ich hier von meinen Erlebnissen – im Stadion und Abseits davon.
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